McDermid, Val
gleichzeitig. »Also, was denn nun?«
Sam lachte schnaubend. »Ihr
wisst ganz genau, dass dieser Junge, wenn er schwarz und aus der Sozialsiedlung
wäre und 'ne ledige Mutter hätte, gar nicht erst in die Nachtmeldungen gekommen
wäre.«
»Aber das ist er nicht, und
die Meldung ist da«, entgegnete Kevin.
»Wir unterwerfen uns damit nur
den Ängsten der weißen Mittelklasse«, meinte Sam verächtlich. »Der Junge ist
bei einem Mädchen, oder er hat Mama und Papa satt und sich aufgemacht in die
schöne Glitzerwelt des Showbiz.« Carol sah Sam überrascht an. Er hatte den
schamlosesten Ehrgeiz von allen im Team und war gewöhnlich als Erster aus den
Startlöchern, wenn sich ihm die Möglichkeit bot, sich zu profilieren oder seine
Stellung zu verbessern. Zu hören, wie er eine Meinung herausposaunte, die ein
derartiges Klassendenken zeigte, war so, als würde man sich Big Brother
anschauen und hörte die Bewohner über Einsteins Relativitätstheorie
diskutieren. »Könnte mir irgendjemand erklären, wovon ihr sprecht?«, fragte sie
freundlich.
Kevin schaute auf die zwei
Blätter Papier, die vor ihm lagen. »Das ist vom Bezirk Nord reingekommen.
Daniel Morrison. Vierzehn Jahre alt. Gestern früh von seinen Eltern als vermisst
gemeldet. Er war die ganze Nacht weg, sie machten sich schreckliche Sorgen,
vermuteten aber, er wollte zeigen, dass er jetzt ein großer Junge ist. Sie
riefen bei seinen Freunden an, ohne Erfolg, aber sie vermuteten, er müsse wohl
bei jemandem sein, den sie nicht kennen. Vielleicht bei einer Freundin, von
der er nichts erzählt hatte.«
»Eine vernünftige Annahme«,
stellte Carol fest. »Nach dem, was wir über Jungs in dem Alter wissen.«
»Stimmt. Sie dachten, alles
würde sich aufklären, wenn er gestern in der Schule auftauchen würde. Aber er
kam nicht. Da beschlossen die Eltern, mit uns zu sprechen.«
»Ich nehme an, seitdem hat
sich nichts ergeben? Und deshalb schieben es die Kollegen vom Bezirk Nord uns
zu?« Carol streckte die Hand aus, und Kevin reichte ihr den Ausdruck. »Nichts.
Er geht nicht an sein Handy, antwortet nicht auf E-Mails, hat sich nicht in
seinen RigMarole-Account eingeloggt. Seine Mutter meint, er würde es nur
zulassen, so abgeschnitten zu sein, wenn er tot oder entführt wäre.«
»Oder er will nicht, dass Mama
und Papa ihn dort finden, wo er mit einem Schätzchen zusammenhockt«, sagte Sam,
presste die Lippen aufeinander und setzte eine aufsässige, finstere Miene auf.
»Ich weiß nicht«, sagte Kevin
langsam. »Jugendliche wollen doch mit ihren Eroberungen angeben. Es ist schwer
zu glauben, dass er der Versuchung widerstehen würde, seinen Kumpels
anzuvertrauen, was er vorhat. Und dieser Tage heißt das RigMarole.«
»Genau, was ich auch denke«,
stimmte Carol zu. »Ich glaube, Stacey sollte überprüfen, ob sein Telefon
angeschaltet ist, und wenn ja, ob wir seinen Standort ausfindig machen können.«
Sam drehte sich halb vom Tisch weg und schlug die Beine übereinander.
»Unglaublich. Ein verwöhnter weißer Junge lässt die Sau raus, und wir geben uns
die allergrößte Mühe, ihn zu finden. Sind wir so verzweifelt darauf aus, den
Eindruck zu erwecken, dass wir unentbehrlich sind?«
»Na klar«, entgegnete Carol spitz.
»Stacey, prüf das nach. Paula, sprich mit dem Bezirk Nord, frag nach, was sie
vorhaben, ob sie wollen, dass wir ihnen helfen. Sieh zu, ob sie uns nicht
Befragungsprotokolle schicken können. Und übrigens glaube ich, dass du dich
irrst, Sam. Wenn es ein schwarzer Junge aus einer Sozialsiedlung mit einem
alleinerziehenden Elternteil wäre, der sein Verschwinden ernst nähme, dann
würden wir das auch tun. Ich weiß nicht, warum du in der Sache diese fixe Idee
hast, aber vergiss sie doch, ja?«
Sam blähte die Backen und
stieß einen Seufzer aus, aber er nickte. »Wie auch immer, Chefin.«
Carol legte die Unterlagen zur
Seite für später und sah sich am Tisch um. »Noch irgendwas Neues?« Stacey
räusperte sich. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. Carol dachte, dass dieser
Gesichtsausdruck bei anderen einem selbstzufriedenen Grinsen entsprechen würde.
»Ich habe etwas«, erklärte sie. »Lass hören.«
»Der Computer, den Sam aus dem
alten Barnes-Haus mitgebracht hat«, sagte Stacey und strich sich eine Strähne
hinters Ohr. »Ich habe die ganze vergangene Woche ziemlich intensiv daran
gearbeitet. Es war sehr aufschlussreich.« Sie tippte auf zwei Tasten auf dem
Laptop, der vor ihr stand. »Die Leute sind erstaunlich blöd.«
Sam
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