McDermid, Val
Mittelpunkt entfernt, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass man diese
gleichen Bedingungen vorfindet. Mit anderen Worten, je weiter er sich von
seinen Hochburgen entfernt, desto wahrscheinlicher ist er unter Menschen, die
seinen Zielen kein Verständnis entgegenbringen, und desto schwerer ist es für
ihn, sich zu verstecken. Bei der biogeographischen Inseltheorie geht es darum,
einen Ort auszuwählen, an dem es die notwendigen Ressourcen gibt. Wenn du also
auf einer Insel festsitzt, wäre dir die Isle of Wight lieber als Rockall.«
»Ich verstehe nicht, was die
Satelliten damit zu tun haben«, sagte Paula stirnrunzelnd.
»Sie haben das Gebiet
ausgeknobelt, wo bin Laden wahrscheinlich sein könnte, dann haben sie
einbezogen, was sie über ihn wissen. Seine Körpergröße, die Tatsache, dass er
regelmäßig eine Dialyse braucht, also irgendwo sein muss, wo es Elektrizität
gibt, und dass er an einem geschützten Ort sein muss. Dann schauten sie sich
die qualitativ hochwertigsten Satellitenbilder an, die sie finden konnten, und
kamen auf drei Gebäude in einer bestimmten Stadt«, erklärte Stacey geduldig.
»Aber wieso haben sie ihn dann
noch nicht verhaftet?«, warf Kevin ein, was nicht unvernünftig war.
Stacey zuckte mit den Achseln.
»Ich sagte nur, sie glauben es. Nicht, dass sie es tatsächlich geschafft haben.
Noch nicht. Aber die Satellitenbilder werden immer genauer. Ein Bild erfasste
früher ein Quadrat von dreißig mal dreißig Metern. Jetzt ist es eher ein halber
Meter. Ihr würdet nicht glauben, welche Einzelheiten spezialisierte Analytiker
sehen können. Es ist wie eine Luftansicht bei Google Street View von der ganzen
Welt.«
»Hör auf, Stacey. Ich bekomme
ja schon Kopfweh. Aber wenn wir das nutzen können, werde ich ewig dankbar sein.
Sprich mal mit den Satellitenfuzzis«, sagte Carol. »Wir sollten aber darauf
achten, dass wir die Kollegen in Cumbria nicht außen vor lassen. Noch etwas?«
Resignierte Blicke am ganzen Tisch sagten ihr alles, was sie wissen musste. Sie
hasste es, in dieser Lage zu sein. Sie brauchten etwas Großes, das Schlagzeilen
machen würde, etwas Spektakuläres. Das einzige Problem war, dass das, was für Carol
und ihr Team lebensrettend wäre, für jemand anderen schreckliche Nachrichten
bedeuten würde. Sie hatte schon allzu viele solcher Situationen erlebt, um sie
nun jemand anderem an den Hals zu wünschen. Sie würden eben einfach in den
sauren Apfel beißen müssen.
9
Selbst als Teenager war Seth
Viner gegenüber seinen Eltern offen geblieben. Er konnte sich an keine
Gelegenheit erinnern, bei der er geglaubt hatte, er müsse Geheimnisse vor seinen
beiden Müttern haben. Na ja, manchmal war es leichter, mit der einen zu reden
statt mit der anderen. Julia war praktischer veranlagt, bodenständiger. In
Krisensituationen ruhiger, und man konnte eher von ihr erwarten, dass sie einen
ausreden ließ. Aber sie wog die Dinge ab und kam nicht immer zu dem Ergebnis,
das er am liebsten gehabt hätte. Kathy war emotionaler und bildete sich sehr
schnell ein. Urteil. Aber trotzdem war sie immer auf seiner Seite: mein Kind -
egal, ob es im Recht war oder nicht. Allerdings verlangte sie auch von ihm,
dass er durchhielt, und erlaubte ihm nicht, sich davonzustehlen, wenn es
schwierig wurde. Aber er hatte es nie bereut, ihnen etwas erzählt zu haben,
sogar Dinge, die für ihn peinlich waren. Sie hatten ihm beigebracht, dass es
den Menschen gegenüber, die man auf der Welt am meisten liebte, keine Geheimnistuerei
geben sollte.
Die andere Seite der Gleichung
war, dass sie sich seine Fragen immer angehört und ihr Bestes getan hatten, sie
zu beantworten. Alles von »Warum ist der Himmel blau?« bis zu »Warum wird in
Gaza gekämpft?«. Nie wimmelten sie ihn ab. Nur weil ihm nie eingefallen wäre,
nicht zu fragen, und es Julia und Kathy nie eingefallen war, ihm nicht zu
antworten, wusste er alle möglichen Dinge, was manchmal seine Lehrer verwirrte
und ihm von seinen Freunden erstaunte Blicke einbrachte. Er nahm an, es hatte
auch etwas mit ihrer Entschlossenheit zu tun, ehrlich und offen mit ihm
darüber zu sprechen, wie es dazu kam, dass er zwei Mütter hatte. Er konnte sich
nicht erinnern, wann ihm aufgegangen war, dass es ziemlich toll war, zwei
Mütter zu haben statt einer wie in den konventionelleren Konstellationen: zum
Beispiel eine Mutter und ein Vater oder ein Stiefvater, oder eine alleinerziehende
Mutter und Großeltern, Onkel und Babysitter. Jeder hält zunächst mal
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