McEwan Ian
weit«, sagte Turner. Er fühlte sich seltsam benommen, als er aufs Feld ging. Der erste Stiefel war leicht zu finden, für den zweiten brauchte er eine Weile. Endlich sah er ihn im Gras neben einer schwarzen, pelzigen Gestalt liegen, die zu pulsieren oder sich zu bewegen schien. Plötzlich stieg mit ärgerlichem Gebrumm eine Wolke Schmeißfliegen auf und gab den Blick auf einen halb verwesten Leichnam frei. Turner hielt den Atem an, schnappte sich den Stiefel und lief davon. Die Fliegen ließen sich erneut auf dem Toten nieder, und es wurde wieder still.
Mit einiger Mühe überredeten sie Nettle, die Stiefel an sich zu nehmen, sie zusammenzubinden und um den Hals zu hängen. Er tue dies, sagte er, bloß Turner zu Gefallen.
I n seinen klaren Momenten machte er sich Sorgen. Nicht um seine Wunde, obwohl die bei jedem Schritt schmerzte, auch nicht um die Sturzkampfbomber, die einige Kilometer weiter im Norden über dem Strand kreisten. Er sorgte sich um seinen Verstand. In gewissen Abständen entglitt ihm etwas. Irgendein alltägliches Prinzip der Kontinuität, dieses Etwas, das ihm gewöhnlich verriet, wo er selbst in seiner eigenen Geschichte stand, zerrann unter seinem Zugriff, überließ ihn einem Tagtraum, in dem es Gedanken gab, aber kein Gefühl dafür, wer sie dachte. Keine Verantwortung, keine Erinnerung an die vergangenen Stunden, keine Ahnung, was oder wohin er wollte, welche Pläne er verfolgte. Er lebte dann im Bann unlogischer Gewißheiten.
In diesem Zustand befand er sich, als sie nach drei Stunden Marsch den östlichen Rand eines Badeortes erreichten. Sie gingen über eine Straße voller Glassplitter und zerbrochener Fliesen; spielende Kinder sahen den Soldaten nach. Nettle hatte seine Stiefel wieder angezogen, aber nicht zugebunden, die Schnürbänder schleiften über die Straße. Und wie ein Springteufel tauchte plötzlich ein Oberleutnant der Dorsets aus dem Keller eines Verwaltungsgebäudes auf, das als Stabsquartier genutzt wurde. Aktenmappe unterm Arm, kam er mit arrogantem, forschem Schritt auf sie zu, blieb stehen, ließ sie salutieren und fuhr dann den Unteroffizier empört an, sich auf der Stelle die Stiefel zuzubinden, falls er nicht vors Kriegsgericht gestellt werden wolle.
Während der Unteroffizier sich hinkniete, um dem Befehl Folge zu leisten, sagte der Oberleutnant, ein schmalschultriger, knochiger Mann mit dünnem Schnäuzer und dem Gesicht eines Schreibstubenhockers: »Mann, Sie sind eine verdammte Schande für die Armee.«
In der hemmungslosen Freiheit seines Traumzustandes beschloß Turner, dem Offizier eine Kugel in die Brust zu jagen. Es würde für alle das Beste sein. Darüber brauchte man gar nicht groß zu diskutieren. Er griff nach seiner Pistole, aber die war verschwunden – er konnte sich nicht erinnern, wo sie geblieben war –, und der Oberleutnant marschierte bereits davon.
Nachdem minutenlang Glas unter ihren Stiefeln geknirscht hatte, wurde es plötzlich still, weil die Straße in feinen Sand überging. Sie stapften zu einer Bresche zwischen den Dünen hinauf und konnten es hören, konnten Salz schmecken, ehe sie das Meer selbst sahen. Der Geschmack von Urlaub. Sie wichen vom Pfad ab, liefen durch Strandgras zu einer erhöhten Stelle und blieben dort schweigend einige Minuten stehen. Die feuchte Brise, die vom Ärmelkanal herüberwehte, pustete ihm den Kopf frei. Wahrscheinlich war es bloß das Fieber, das mal stieg, mal wieder sank.
Er hatte geglaubt, keinerlei Erwartungen zu haben – bis er den Strand sah. Er hatte einfach angenommen, daß diese vermaledeite Kasernenhofmentalität, die sie noch im Angesicht des eigenen Unterganges Steine weiß bemalen ließ, sich auch hier durchsetzen würde. Also bemühte sich Turner, Ordnung in das Gewusel da unten zu bringen, und fast wäre es ihm auch gelungen: Kommandozentralen, Stabsfeldwebel an provisorischen Schreibtischen, Stempel und Lieferscheine, mit Seilen gesicherte Korridore zu den wartenden Booten, schikanierende Feldwebel, zähe Warteschlangen vor Feldküchen. Insgesamt eben ein Ende aller Eigeninitiative. So hatte, ohne daß es ihm bewußt gewesen war, der Strand ausgesehen, auf den er seit Tagen zumarschierte. Der Strand aber, auf den er und die Unteroffiziere jetzt hinabblickten, unterschied sich nur wenig von dem, was sie in letzter Zeit erlebt hatten: Ein wilder Haufen strömte hier zusammen. Jetzt, da sie das Chaos vor sich sahen, schien es ihnen unvermeidlich – wie konnte es auch anders sein, wenn ein
Weitere Kostenlose Bücher