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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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ebenfalls abgewiesen. Außerdem pickte sich der Feldwebel Soldaten zur zusätzlichen Sicherung der Verteidigungslinie aus der Menge und tat dies mit weit größerer Autorität als der arme Major. Eine wachsende Zahl bekümmert dreinblickender Männer sammelte sich vor der Schreibstube. Ein ganzes Stück vor der Brücke erkannte Turner - im selben Moment wie die Unteroffiziere –, was da vor sich ging.
»Diesmal geht’s dir an den Kragen, Kumpel«, sagte Mace zu Turner. »Die blöde, arme Infanterie. Wenn du zu deiner Mieze willst, solltest du dich lieber bei uns einhängen und tun, als müßtest du humpeln.«
Es schien ihm würdelos, doch kannte er nur ein Ziel, also legte er die Arme um die Schultern der Unteroffiziere, und gemeinsam stolperten sie weiter.
»Das linke, Boss, nicht vergessen«, sagte Nettle. »Oder soll ich deinen Fuß mal eben mit meinem Bajonett anpiksen?« »Besten Dank, aber ich glaub, ich schaff’s auch so.« Auf der Brücke ließ Turner den Kopf hängen, weshalb er den scharfen Blick des diensthabenden Feldwebels nicht sah, ihn aber zu spüren meinte, als der in schneidendem Kommandoton »He, Sie da!« bellte. Irgendein Unglücklicher gleich hinter ihm wurde herausgefischt, um den Ansturm aufzuhalten, der in den nächsten zwei, drei Tagen erfolgen mußte, dann, wenn hoffentlich bereits die letzten Soldaten des britischen Expeditionsheeres in die Boote sprangen. Während er den Kopf gesenkt hielt, sah er statt dessen einen langen, schwarzen Schleppkahn, der mit Fahrt auf das belgische Furnes unter der Brücke hindurchglitt. Der Kapitän saß an der Ruderpinne, rauchte eine Pfeife und blickte stoisch geradeaus. Hinter ihm, nur fünfzehn Kilometer entfernt, brannte Dünkirchen. Im Bug beugten sich zwei Jungen über ein umgedrehtes Rad und flickten einen Reifen. Wäsche, auch weibliche Unterwäsche, war zum Trocknen aufgehängt. Jemand kochte, der Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch stieg vom Boot auf. Turner und die Unteroffiziere überquerten die Brücke und gingen an den weißgestrichenen Steinen vorbei, die sie an die Ausbildungslager mit ihrem Drill erinnerten. In der Schreibstube klingelte ein Telefon.
Mace brummte: »Verdammt, du humpelst, bis wir außer Sicht sind.«
Doch auf Kilometer im Umkreis war das Land offen und flach, und sie konnten nicht wissen, in welcher Richtung der Feldwebel blickte, und wollten sich nicht umdrehen, um nachzusehen. Eine halbe Stunde später setzten sie sich auf eine rostige Sämaschine und schauten zu, wie die besiegte Armee an ihnen vorüberwankte. Sie würden warten und sich unter völlig unbekannte Leute mischen, damit Turners plötzliche Genesung nicht die Aufmerksamkeit irgendeines Offiziers erregte. Viele Männer, die an ihnen vorbeikamen, ärgerten sich, weil der Strand nicht gleich hinterm Kanal lag. Sie schienen das für einen Planungsfehler zu halten. Turner wußte von der Karte, daß es bis dahin noch elf Kilometer waren, und als sie sich schließlich wieder auf den Weg machten, waren dies die härtesten, die mühseligsten Kilometer, die sie an diesem Tag zurücklegten. Das weite, eintönige Land ließ kein Gefühl dafür aufkommen, daß sie überhaupt vorankamen. Und obwohl die nachmittägliche Sonne von den schlierigen Rändern der Ölwolke halb verdeckt wurde, war es unerträglich warm. Sie sahen Flugzeuge hoch über dem Hafen ihre Bomben abwerfen, aber noch schlimmer fanden sie, daß Stukas über den Strand jagten, auf den sie zuhielten. Sie marschierten an Verwundeten vorbei, die nicht weitergehen konnten und wie Bettler am Straßenrand hockten, um Hilfe riefen oder um einen Schluck Wasser baten. Andere lagen im Graben, bewußtlos oder in Trübsinn versunken. Bestimmt fuhren regelmäßig Sanitätswagen von der Verteidigungslinie herauf zur Küste. Wenn man Zeit hatte, Steine weiß anzumalen, mußte es auch Zeit geben, solche Fahrten zu organisieren. Sie hatten kein Wasser. Der Wein war ausgetrunken und ihr Durst jetzt noch größer als vorher. Sie hatten auch keine Medikamente. Was sollten sie denn machen? Ein Dutzend Männer auf den Rücken nehmen, wo sie sich doch selbst kaum weiterschleppen konnten?
Von plötzlichem Trotz gepackt, setzte sich Unteroffizier Nettle auf die Straße, zog seine Stiefel aus und feuerte sie ins Feld. Er sagte, er hasse sie, er hasse sie mehr als alle verdammten Deutschen zusammen. Und seine Blasen seien so schlimm, daß er ohne die Mistdinger sowieso besser dran wäre. »Auf Socken ist es bis England ziemlich

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