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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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ungeordneter Rückzug sein Ende erreichte? Sie brauchten nur einen Augenblick, um sich darauf einzustellen. Turner sah abertausend Männer, zehntausend, zwanzigtausend, vielleicht auch mehr, die sich über den breiten Strand verteilt hatten. Wie schwarze Sandkörner wirkten sie von weitem. Doch es gab keine Boote, keine Schiffe, von einem gekenterten Walfänger einmal abgesehen, der in der fernen Dünung rollte. Es herrschte Ebbe, und bis zum Wasser waren es fast anderthalb Kilometer. Auch an der langen Mole lagen keine Schiffe. Turner blinzelte und schaute genauer hin. Die Mole bestand aus Männern, die sich in einer langen Reihe, sechs bis acht nebeneinander, knietief, hüfttief, schultertief ins flache Wasser vorgeschoben hatten. Sie warteten, doch war nichts zu sehen, wollte man die Flecken am Horizont nicht gelten lassen – Schiffe, die nach einem Luftangriff brannten –, nichts, was den Strand in den nächsten Stunden erreichen konnte. Die Soldaten aber standen da, die Gesichter unter den Stahlhelmen dem Horizont zugewandt, Gewehre überm Kopf. Aus dieser Entfernung wirkten sie so geduldig und ergeben wie Vieh.
Diese Männer waren jedoch nur ein kleiner Teil des großen Stroms. Die meisten hielten sich am Strand auf und schlenderten ziellos hin und her. Einzelne Grüppchen umstanden die Verwundeten vom letzten Stuka-Angriff. Und ebenso ziellos wie die Männer trabte eine kleine Herde aus einem halben Dutzend Artilleriepferden am Meeresufer entlang. Ein paar Soldaten versuchten, den gekenterten Walfänger wieder flottzumachen, andere hatten sich ausgezogen und badeten. Weiter im Osten fand ein Fußballspiel statt, und aus derselben Richtung ertönten leise die getragenen Klänge eines Chorais, die bald vom Wind wieder verweht wurden. Am Fußballplatz war das einzige Zeichen geordneter Aktivität auszumachen. Lastwagen reihten sich hintereinander, wurden zusammengezurrt und fuhren ins Meer, um eine provisorische Landungsbrücke zu bilden. Weitere Lastwagen folgten. Auf dem Strand selbst schaufelten sich einige Männer mit ihrem Helm ein Schützenloch. In den Dünen, unweit von Turner und den Unteroffizieren, war man damit schon fertig, und die Männer lugten selbstzufrieden und voller Besitzerstolz aus ihren Löchern hervor. Wie Krallenäffchen, dachte Turner. Doch der Großteil der Armee wanderte planlos über den Sand wie die Bürger einer italienischen Stadt zur Stunde des passeggio. Sie sahen keinen unmittelbaren Anlaß, sich in die gewaltige Schlange einzureihen, wollten aber für den Fall, daß doch noch plötzlich ein Boot auftauchen sollte, den Strand nicht verlassen.
Linker Hand lag der Badeort Bray-les-Dunes, eine Reihe freundlicher Cafés und kleiner Läden, die in der Saison für gewöhnlich Strandkörbe und Fahrräder vermieteten. In einem kreisförmig angelegten Park mit ordentlich gemähtem Rasen standen ein Musikpavillon und ein rot, weiß und blau gestrichenes Karussell. Hierhin zog es eine eher sorglose Schar von Soldaten. Sie hatten die Cafés in Beschlag genommen und betranken sich draußen an den Tischen, grölten und lachten, andere alberten auf Fahrrädern über vollgekotzte Bürgersteige. Einige Betrunkene lagen beim Musikpavillon im Gras und schliefen ihren Rausch aus. Ein einzelner Sonnenanbeter döste in Unterhose auf seinem Handtuch, Gesicht nach unten, einen ungleichmäßigen Sonnenbrand auf Beinen und Schultern, rosa und weiß wie Erdbeer- und Vanilleeis.
Es fiel ihnen nicht schwer, sich zwischen diesen Kreisen der Qual zu entscheiden – Meer, Strand oder Promenade. Die Unteroffiziere waren schon unterwegs. Der Durst allein entschied. Sie fanden einen Pfad auf der meerabgewandten Seite der Dünen und kamen gleich darauf zu einer sandigen, mit zerbrochenen Flaschen übersäten Rasenfläche. Während sie sich ihren Weg durch das rauhe Treiben an den Tischen suchten, sah Turner einige Marinesoldaten über die Promenade näher kommen und bei diesem Anblick stehenbleiben. Sie waren zu fünft, zwei Offiziere und drei einfache Matrosen, eine blitzblanke Truppe in sauberem Weißblaugold. Keine Rede von Tarnanzügen. Ernst und in strammer Haltung, Pistolen in den Halftern, schritten sie mit wortloser Autorität an den vielen dunklen Kampfanzügen und verdreckten Gesichtern vorbei und blickten von einer Seite auf die andere, als führten sie eine Truppeninspektion durch. Einer der Offiziere machte sich Notizen auf seinem Klemmbrett. Dann gingen sie zum Strand. Angstvoll wie ein Kind, das

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