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McEwan Ian

McEwan Ian

Titel: McEwan Ian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbitte
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Laut war der gleiche, doch die Bedeutung hatte sich geändert. Und dann sprach er die drei Worte, die noch soviel schlechte Kunst, noch soviel Lug und Trug nicht ganz entwerten können. Sie wiederholte sie und legte genau die gleiche, leichte Betonung auf das zweite Wort, als wäre sie diejenige, die zuerst gesprochen hatte. Er glaubte an keinen Gott, doch war es unmöglich, nicht an eine unsichtbare Präsenz, an einen Zeugen im Zimmer zu denken und daran, daß diese laut gesprochenen Worte wie Unterschriften unter einem unsichtbaren Vertrag waren.
Etwa eine halbe Minute hatten sie sich nicht gerührt, noch länger auszuharren hätte die Beherrschung einer formidablen tantrischen Kunst vorausgesetzt. Sie liebten sich an den Bücherregalen, die bei jeder Bewegung ächzten. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, in solchen Augenblicken davon zu träumen, daß man an einem hohen, abgelegenen Ort eintrifft. Er stellte sich vor, wie er über eine sanfte, runde Hügelkuppe schlenderte, die sich zwischen zwei höheren Gipfeln erhob. Er war ohne alle Eile, zum Erkunden aufgelegt und ließ sich die Zeit, an einen Felsrand zu gehen und einen Blick den nahezu senkrechten Abhang hinabzuwerfen, in den er sich bald stürzen mußte. Er fühlte sich versucht, gleich jetzt in den leeren Raum zu springen, doch war er ein Mann von Welt, und er konnte wieder fortgehen, konnte warten. Es war nicht leicht, denn es zog ihn zurück, und er mußte diesem Drang widerstehen. Solange er aber nicht an den Abgrund dachte, würde er auch nicht in seine Nähe gehen und sich der Versuchung aussetzen. Er zwang sich, an die langweiligsten Dinge zu denken, an die er sich erinnern konnte – an schwarze Schuhcreme, ein Bewerbungsformular, ein feuchtes Handtuch auf dem Badezimmerboden. Dann war da noch der umgedrehte Deckel einer Abfalltonne, in dem sich zwei Zentimeter Regenwasser gesammelt hatten, und der Teefleck, ein unvollständiger Ring, auf den Gedichten von Housman. Ihre Stimme setzte dem kostbaren Auflisten ein Ende. Sie rief ihn, lud ihn ein, murmelte etwas in sein Ohr. Natürlich. Sie würden zusammen springen. Er war jetzt bei ihr, lugte in den Abgrund, und sie sahen, wie der Abhang sich unter ihnen in der Wolkendecke verlor. Hand in Hand würden sie sich rückwärts fallen lassen. Sie sagte es noch einmal, murmelte in sein Ohr, und diesmal konnte er sie deutlich verstehen. »Da ist jemand im Zimmer.«
Er schlug die Augen auf: Eine Bibliothek, in einem Haus, es war völlig still. Er trug seinen besten Anzug. Und dann fiel es ihm erstaunlich leicht wieder ein. Er blickte angestrengt über seine Schulter, konnte aber nur den schwach beleuchteten Tisch sehen, unverändert, wie die Erinnerung aus einem Traum. Die Tür war aus ihrer Ecke nicht zu sehen. Doch war kein Laut zu hören, nichts. Cecilia irrte sich, verzweifelt wünschte er sich, daß sie sich irrte, und so war es auch. Er wandte sich zu ihr um und wollte es ihr sagen, da verstärkte sie ihren Griff um seinen Arm, so daß er sich noch einmal umdrehte. Langsam trat Briony in ihr Blickfeld, blieb am Tisch stehen und sah sie an. Einfältig stand sie da, starrte zu ihnen hinüber und ließ die Arme locker herabhängen wie ein Revolverheld bei einem Duell im Wilden Westen. In diesem ernüchternden Augenblick erkannte er, daß er noch nie jemanden gehaßt hatte. Es war ein Gefühl so rein wie die Liebe, doch leidenschaftslos, eiskalt und rational. Es war überhaupt nicht persönlich gemeint, er hätte jeden gehaßt, der hereingekommen wäre. Im Salon oder auf der Terrasse wurden Drinks serviert, dort sollte Briony eigentlich sein – bei ihrer Mutter, ihrem geliebten Bruder, ihrer Kusine und den kleinen Vettern. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum sie sich in der Bibliothek aufhielt, es sei denn, sie suchte ihn und wollte ihm verwehren, was ihm gehörte. Und jetzt wurde ihm klar, was passiert war: Sie hatte den verschlossenen Umschlag geöffnet, um seinen Brief zu lesen, war angewidert gewesen und hatte sich auf ihre merkwürdige Art zugleich betrogen gefühlt. Sie hatte ihre Schwester gesucht – zweifellos mit dem erregenden Gedanken, sie beschützen zu müssen oder tadeln zu wollen –, als sie hinter der verschlossenen Tür zur Bibliothek ein Geräusch vernommen hatte. Getrieben von übermäßiger Ignoranz, dummer Phantasterei und mädchenhafter Redlichkeit war sie gekommen, um Einhalt zu gebieten. Was sie nicht einmal mehr zu tun brauchte, da sie sich längst getrennt und voneinander

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