McJesus
immerhin, wie die Dinge heutzutage gehandhabt wurden. Folglich nahm er an, dass man Michael in den obersten Stock verlegt hatte in ein Einzelzimmer mit Blick auf die Stadt und einem Tagessatz von 10.000 Dollar. Er ging auf die Suche nach jemandem, der ihm über Michaels Verbleib Auskunft geben konnte. Im Gang hielt er einen Krankenpfleger an und erkundigte sich nach Michael. Der Pfleger vermied es, ihn anzusehen, was Dan auf das Priestergewand und Schuldgefühle seitens des Pflegers zurückführte. Der Pfleger führte Dan zu einem Büro am Ende des Gangs.
Auf dem Schild an der Tür stand »Dr. Wu«. Dan klopfte und trat ein. »Ich suche Dan Steele. Gestern war er in Zimmer 605. Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
Die Frage schien Dr. Wu nervös zu machen, aber als er aufblickte und einen Priester vor sich sah, entspannte er sich.
Priester waren verständnisvoll und versöhnlich. Das würde Dr. Wus Aufgabe um einiges erleichtern. »Kommen Sie herein, Pater«, sagte Dr. Wu.
Dan ordnete ihn instinktiv der Zielgruppe »Arzt mit Schulden« zu. Der Mann war achtunddreißig bis vierzig Jahre alt, stotterte das Darlehen für sein Studium ab, kannte seinen neuesten Kontostand, aß Fleisch, sah den Kanal Action & Eyewitness. »Bitte, setzen Sie sich.« Dr. Wu wies auf einen Stuhl.
»Ich will mich nicht setzen«, sagte Dan. Dr. Wu nickte. »Sind Sie der geistliche Beistand der Familie?«
»Nein, ich bin sein Bruder. Könnten Sie mir jetzt vielleicht sagen, wo ich ihn finde? Ich habe es ein bisschen eilig.«
Nun, dachte Dr. Wu, das lässt die Dinge in einem neuen Licht erscheinen. Trotzdem war es immer noch besser, mit einem Bruder zu sprechen, der Priester war, als mit einer liebenden Mutter oder Ehefrau. Die Chance, dass es zu einer dieser großen Rührszenen kommen würde, die Dr. Wu stets so peinlich berührten, war weitaus geringer.
»Können Sie mich hören, Doktor? Ich bin immer noch hier«, sagte Dan. »Ich warte. Dan Steele, wissen Sie noch?«
»Was? O ja«, sagte Dr. Wu. »Verzeihen Sie, Pater. Ich musste mich nur etwas sammeln.« Er beugte sich über seinen Schreibtisch und blickte auf ein Schriftstück. Dann sah er den Priester an. »Tja, Pater … Dan ist heimgegangen«, sagte Dr. Wu. Er nickte langsam, als wäre damit alles gesagt.
»Nein, er wohnt bei mir«, sagte Dan. »Wenn er heimgegangen wäre, würde ich es wissen.«
Glücklicherweise war Dr. Wu im Umgang mit Verweigerung geschult. Er wollte dem armen Mann nicht einfach die harten Fakten ins Gesicht schleudern, deshalb versuchte er es auf die sanfte Tour. »Pater, es tut mir Leid«, sagte er. »Dan hat uns verlassen.«
»Das habe ich gehört«, sagte Dan. »Aber ich glaube nicht, dass er ohne mich gegangen wäre.«
Dr. Wu blickte Dan mit verständnisvollen Augen an. »Nun, Pater, wir können es uns nicht immer aussuchen, wann wir unsere Taue aufschießen, nicht wahr?«
Dan hob den Kopf und warf einen Blick zur Zimmerdecke. Dann sah er wieder den Arzt an. »Taue aufschießen?« Der Arzt lächelte traurig, weil der Priester Euphemismen offensichtlich nicht beherrschte. »Was zum Teufel reden Sie da?«, sagte Dan.
»Es tut mir Leid, Pater. Ich dachte, Sie wüssten es. Dan ist tot.«
II
»Sprichst du zu Gott, dann betest du; spricht Gott zu dir, bist du schizophren.«
LILY TOMLIN (wird auch Thomas Szasz zugeschrieben)
5
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Dan. »Gestern war er noch quicklebendig.«
Dr. Wu räumte ein, dass Ärzte manchmal Fehler machten, doch wenn es darum gehe, den Tod zu diagnostizieren, seien sie durchaus Experten. Ein Irrtum sei ausgeschlossen. »Dan ist tot.«
Die volle Bedeutung dieser Tatsache kam bei dem lebenden Dan nicht sofort an. Er war zu bestürzt, um über die Folgen nachzudenken, die sich aus Michaels Tod für ihn ergaben. Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass Michael, sein Bruder, tot war – gegangen für immer. Dan saß da und starrte ins Leere. Nach einer Minute blickte er auf und sagte ungläubig:
»Er ist tot?«
Dr. Wu nickte und begann zu erklären. »Wie Sie wissen, haben wir gestern gleich nach Dans Einlieferung eine gastrointestinale Untersuchung gemacht, eine Computertomografie, eine Magnetresonanztomografie sowie ein Leukozytenszintigramm. Das brachte uns auf einen kleinen Abszess im Unterleib und eine Sepsis. Wir zogen unsere Chirurgen und die Experten für Infektionskrankheiten hinzu, und sie versuchten, die Infektion mit einem neuen, noch nicht zugelassenen Antibiotikum zu
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