Mea culpa
sie entlarvt würde. Sie hatte seit zwei Tagen nicht mehr mit Rebecca gesprochen. Anders als einige von den anderen, die im Vorzimmer saßen und nichts ahnend Synne Nielsens Glaubwürdigkeit, ja ihren guten Ruf als anständiger Mensch in Händen hielten.
Alle, die in der Gewissheit leben, dass es Gott gibt, verfallen in verzweifeltes Gebet, wenn die Lage nur düster genug scheint. Und jetzt psalmodierte Synne.
Hinter ihrer geschlossenen Tür verließen die Ersten das Haus. Wenn Synne das gewusst hätte, hätte sie sich vielleicht beruhigt. Aber ein kräftiges Ohrensausen hinderte sie daran, die raschen, leichten Endlich-Freitag-Schritte zu hören, die über den Flur eilten, hinaus in die Freiheit und vielleicht in das letzte sommerliche Wochenende dieses Jahres.
Am Ende fasste sie sich ein Herz, sie erhob sich und schaute aus der Tür. Es war halb vier, und alles war verödet. Langsam und ruhig und mäuschenstill wie die Verbrecherin, die sie ja auch war, schlich sie über den Flur.
Niemand war mehr da. Niemand war mehr da! Es war nicht zu glauben. Als sie sich Rebeccas Tür näherte, stand die plötzlich vor ihr.
Sie hatte sich die Haare schneiden lassen. Jetzt besaß sie Ähnlichkeit mit Kleopatra, es war eine füllige, starre Frisur mit messerscharfen Kanten, die auf ihren Schultern wippten. Der Pony war ein wenig gekappt worden, und zum ersten Mal konnte Synne ihre Augenbrauen sehen, zwei vollständig symmetrische, schmale Bögen, frischgewetzte Sensen, die den Eindruck von Intelligenz und Klugheit noch verstärkten. Rebecca hatte sich umgezogen (zu diesem Schluss kam Synne, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass Rebecca ihre Besprechungen in Jeans abgehalten hatte), sie trug also Jeans und dazu ein loses Flanellhemd über einem ziemlich tief ausgeschnittenen T -Shirt. Sie wirkte ganz anders als sonst, sie schien die Abteilungsleiterin im Büro abgelegt zu haben, zusammen mit den Kleidern im österreichischen Trachtenstil, die streng genommen weniger schön als teuer waren. Synnes Mund war wie ausgedörrt, diese Häutung auf Seiten Rebeccas erschien ihr als Schritt herüber in ihr eigenes Alter, als Signal der Annäherung. Über ihrer Schulter trug Rebecca einen kleinen Rucksack aus mehrfarbigem Leinen, er sah aus wie ein Kinderrucksack.
»Wo stecken die anderen?«, fragte sie mit strahlendem Lächeln. »Irgendwo ruft schon ein Glas Weißwein nach mir!«
»Nein, die anderen …«
Synne hatte nicht so weit gedacht, dass Rebecca es vielleicht seltsam oder sogar beleidigend finden würde, dass die anderen, die sich so begeistert in die im Vorzimmer ausliegende Liste eingetragen hatten, jetzt wie der Schaum in einem geleerten Bierglas verschwunden waren.
»Ich weiß nicht«, log sie glatt und schaute sich über ihre Schulter um, um klarzustellen, dass auch sie diese Leere und Stille höchst seltsam fand.
Etwas von dem Sonnenschein in Rebeccas Gesicht verlor sich, als sie nach einer kurzen Runde feststellen musste, dass die Abteilung wie ausgestorben war. Synne versuchte, den Sonnenschein zurückzulocken.
»Na ja, wir zwei können es uns doch auch gemütlich machen«, sagte sie enthusiastisch und mit so großem Glück im Herzen, dass es gewiss zu hören war.
»Sicher«, meinte Rebecca höflich. »Aber ein bisschen schade ist es schon …«
Als sie die Sicherheitszone im Foyer passierten, nachdem Synne, nicht aber Rebecca Schultz, ihre Stechkarte abgestempelt hatte, wurden sie vom Schicksal abgeholt. Mit atemlosen Schnauben kam ›Postman Pat‹ hereingestürzt.
»Ich hab’s noch geschafft. Wartet, bis ich das hier abgelegt habe«, keuchte er und schwenkte einen Stapel Papiere von einer Besprechung, an der er eben teilgenommen hatte. »Zwei Minuten. Höchstens!«
Wenn die Kindergeschichte vom Postman Pat statt mit Puppen mit Menschen verfilmt worden wäre, wäre er für die Hauptrolle prädestiniert gewesen. Er war genauso langweilig. Dreijährige Kinder würden sicher über ihn lachen, doch die absolute Altersgrenze lag bei fünf. O verdammt. Er war nicht im Haus gewesen, als Synne den Umtrunk abgesagt hatte. Sie hatte ihn vergessen. Er war eine Klette. Sie verabscheute ihn von ganzem Herzen.
Rebecca Schultz schien sich unter einem netten Freitagnachmittag – von einem Abend ganz zu schweigen – etwas völlig anderes vorzustellen als ein Treffen mit Synne und Postman Pat. Aber sie endeten dann doch in einem Straßenlokal. Rebecca wusste schließlich, was sich gehörte.
Synne schöpfte
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