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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Hoffnung, als Postman Pat um Orangensaft bat, statt sich an ihrem Halben und an Rebeccas Weißwein ein Beispiel zu nehmen. Er trank sehr langsam. Synne konnte ihren Blick nicht von der orangefarbenen Plörre losreißen, in ihrem Kopf machte sie für jeden langsamen Schluck einen kleinen Strich. Ein winziges totes Insekt war am feucht beschlagenen Glas gefangen, doch die Entfernung zwischen diesem Tier und dem Saft schien sich nicht verringern zu wollen. Synne versuchte, ihn zum Trinken zu animieren, indem sie immer wieder ihr eigenes Glas hob. Dass er sich an einem Freitagnachmittag für Orangensaft entschieden hatte, eröffnete für sie unendliche Möglichkeiften.
    Aber es war der langsamst getrunkene Orangensaft der Weltgeschichte. Es dauerte Jahrzehnte. Synne sagte in Gedanken ein Mantra auf: Trink aus und geh! Trink aus und geh! Die Minifliege hatte jetzt Gesellschaft von einer Ameise bekommen. Die kämpfte wild gegen ihr grausames Schicksal an, blieb aber kleben und verschwand im Mund von Postman Pat, der einen plötzlichen letzten, befreienden Schluck nahm. Für einen Moment schien er noch bleiben zu wollen, er schaute auf die Uhr, erhob sich halb, setzte sich wieder und starrte eine Weile sein Glas an, dann bat er plötzlich um Entschuldigung und stürzte davon. Zum Zug, der ihn nach Hause bringen sollte, zu seiner Frau und den vielen Postbotenkindern.
    Synne Nielsen wurde es schwindlig, und sie rieb sich die Ohrläppchen. Hier saß sie nun mit ihrem Bier, und auf der anderen Seite des Tisches saß Rebecca Schultz. Weit und breit war keine ministeriale Seele zu sehen, was an sich schon ein Zeichen des Himmels sein musste. Als sie ihr Bier getrunken hatte, saß Rebecca noch immer da, mit einem seltsamen, fast schon verwunderten Lächeln, und sie lachte, sie lachte über Synnes viele abgedroschene Geschichten, die alle anderen schon kannten, weshalb sie ihr immer ins Wort fielen, die in Rebeccas frischen Ohren aber neues Leben gewonnen und damit unwahrer und unterhaltsamer wurden denn je. Rebecca ergriff außerdem die Initiative und bestellte noch eine Runde.
    »Du musst doch noch nicht gehen?«, fragte sie und winkte dem Kellner.
    Ihr Lächeln war neu und anders, und Synne konnte ihr nicht in die Augen schauen; sie starrte in das leere Glas, das sich in ihren Händen immer wieder drehte, und sagte: »Nein, ich habe Zeit genug. Eigentlich, meine ich.«
    »Niemand wartet zu Hause auf dich?«
    Das Bierglas kam zu einem jähen Stillstand, und Synne schaute auf.
    »Nein«, sagte sie und lachte laut. »Der Hund macht Urlaub.«
    Synne Nielsen mochte Alkohol. Sie trank überaus gern Schnaps, war vielleicht sogar davon abhängig, hatte sich aber schon zu oft um den Verstand getrunken, um für den Vollsuff zu schwärmen. Wenn es ganz schlimm kam, dann brachte der sie an rabenschwarze Abgründe, um sie dann, mit einem letzten, zwingenden, unnötigen und nach nichts schmeckenden Glas, über die Kante zu stoßen, sodass sie fiel und fiel und erst spät am nächsten Tag wieder landete, um sich dann – wie Millionen von anderen Menschenwürmern vor ihr – bei ihren verwüsteten Eingeweiden zu schwören, dass es nie, niemals wieder vorkommen sollte. Aber in der Regel war der Rausch notwendig. Er machte sie glücklich, kreativ, selbstsicher, und er sorgte dafür, dass sie sich innerlich ebenso groß vorkam wie äußerlich. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, hegte hochfliegende Träume und kannte den Rausch in fast all seinen Manifestationen. Aber nichts auf der Welt, rein gar nichts, ließ sich mit dem milden, vergänglichen Schwips vergleichen, den ein einziges Bier ihr an einem schattigen Sommertag schenken konnte.
    Trotz einer zeitweise harmonischen Kindheit und trotz eines Lebens, das sich bisher als recht großzügig und sonnenreich erwiesen hatte, ging ihr plötzlich auf, als neue Gläser zwischen ihnen auf den Plastiktisch geknallt wurden, dass sie nie, in ihrem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen war wie jetzt, in diesem zehn Minuten vorhaltenden leichten Rausch nach einem halben Liter goldenem, in perfektem Tempo getrunkenem Bier, in vollendeter Harmonie mit den Nervenbahnen, die sich im günstigen Fall über derlei Zuflüsse sogar freuen.
    Das hier war Synnes Abend. Ihre einmalige olympische Leistung. Ihre Spitzenform hatte sich durch jahrelanges Training aufgebaut, und alles wirkte an diesem lärmenden, lachenden Spätsommerabend zu ihren Gunsten. Alle oberflächlichen Kenntnisse, alle überflüssigen

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