Mea culpa
freundlich, aber doch mit einem Unterton von schlecht verhohlenem Verdacht –, wie lange ich eigentlich bleiben wolle. Auf mein Einreiseformular, das er bei sich hatte, hatte ich »Vacational purpose« geschrieben, als Antwort auf die Frage, was ich hier wollte. In die Spalte für die Aufenthaltsdauer »app. three months«. Der Mann mit dem Klemmbrett machte mich darauf aufmerksam, dass die drei Monate schon lange um waren. Ich lächelte und versuchte, das Weibchen zu spielen. Das fiel mir nicht leicht einem Mann gegenüber, der fünfzehn Zentimeter kleiner war und nur halb so viel wog wie ich. »I’ll be back, ma’am«, sagte er halb bedrohlich, halb flirtend, als er ging. Sein Besuch machte mir einige Tage lang Sorgen. Jetzt habe ich mich damit beruhigt, dass ich mich dem Problem stellen werde, wenn es akut wird.
Seit fünf Tagen versuche ich Gründe zu ersinnen, um nicht zu schreiben. Ich habe Petter abends eingeladen; er kann jetzt ganze Sätze bilden und scheint auch ihre Bedeutung zu verstehen. »Krieg ich eine Cola«, sagt er immer wieder. In der Kiste lagen, zusammen mit dem Stuhl, Michel von Lönneberg und vier Aurora-Bücher; wie bestellt. Dazu die vier, die ich selbst geschrieben habe; es war seltsam, sie auszupacken, unangenehm, fast widerlich, und ich habe sie unter der Matratze verstaut. Ich lese Aurora im Block Z und frage mich, wie viel er in dieser Zeit wohl lernen kann. Ich meine, ich kann ja nicht für immer hier bleiben. Wenn mir der Gedanke kommt, dass ich irgendwann diese Insel verlassen muss, dann denke ich unwillkürlich an Petter. Petter kann mitkommen. Natürlich kann Petter nicht mitkommen. Petter wohnt hier, lebt hier, hat seine Mutter oder Großmutter oder Urgroßmutter hier, oder was immer Asha nun eigentlich ist.
Wenn Petter mit mir nach Hause fahren könnte, wäre fast alles anders. Es hätte eine Bedeutung. Wäre eine Verantwortung, eine Verpflichtung; er wäre eine Medaille, die ich vor mich halten könnte, als Schutz gegen alle stummen Anklagen. Ein goldener Schild. Er wäre ein Grund, in Norwegen zu sein, der beste Grund der Welt zu leben; etwas ganz Neues und anderes, mit dem ich mein Leben kitten könnte. Nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen. Der Beweis dafür, dass ich ein Recht zum Leben habe; ich wäre nicht mehr ganz allein. Ich hätte das schönste, klügste Kind, das die Welt je gesehen hat. Er würde sicher Arzt werden. Oder Computerguru. Und ganz bestimmt würde er in der Fußballnationalmannschaft landen, auch wenn er klein für sein Alter ist.
Diese Vorstellung macht mich schläfrig, und ich lächele lange. Aber dann fällt mir der Brief wieder ein, und sofort bin ich wach und klar im Kopf.
19
»Hallo, Synne! Das ist ja ewig her! Wo in aller Welt hast du dich denn rumgetrieben?«
Ehe noch irgendwer etwas unternehmen konnte, hatte Finn schon vom Nachbartisch einen Stuhl geholt.
»Hallo«, sagte er noch einmal und starrte Rebecca an, dann streckte er die Hand aus. »Finn Simonsen.«
»Rebecca«, sagte sie kurz und erhob sich nur halbwegs.
»Was machst du denn so? Du lässt dich ja nie mehr sehen.«
Er versetzte Synne einen Klaps auf den Kopf, und sie duckte sich.
»Finn und ich spielen zusammen Basketball«, erklärte sie und hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.
»Und gucken uns Videos an und gehen ins Kino und im Sommer zusammen schwimmen«, zählte Finn auf und konnte Rebecca nicht aus den Augen lassen. »Und schauen den Frauen hinterher.«
»Lass das«, sagte Synne, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.
Darauf hatte sie gehofft. Davon hatte sie geträumt. Viele Male. Ab und zu die ganze Zeit. Das Schweigegelöbnis, das sie mit der Hand auf dem Herzen abgelegt hatte – ihrer Familie sollten alle erdenklichen Unglücke widerfahren, wenn sie den Mund aufmachte – hatte sie daran gehindert, sich zu Rebecca zu bekennen. Die kurzen gestohlenen Stunden im Blick der Öffentlichkeit – sogar zum Essen gingen sie in eher abgelegene und wenig besuchte Lokale, wo die Gefahr, Bekannten zu begegnen, minimal war – hatte ihr die Möglichkeit geraubt, sie vorzuzeigen.
Finn kannte sie so lange, dass er die Lage sofort durchschaute. So lange, dass er sofort begriff, dass er nichts begreifen durfte.
»Beschäftigt, ja. Viel zu tun. So geht’s!«
Er winkte dem Kellner und bat um ein Bier. Synne hatte keine Lust, ihn wegzuschicken. Sie wollte, dass er dort saß und die Frau mit den schönen schwarzen Augen anstarrte, die Frau
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