Mea culpa
sich von ihrem Stein, sie verliert das Gleichgewicht und muss sich mit einer Hand an einem Baum festhalten, und plötzlich sieht sie viel älter aus, so wie zu Anfang, uralt, ausdruckslos und mit Rosinenrunzeln im Gesicht. Die Ballerina ist verschwunden, und sie bückt sich steif, um ihre Tasche aufzuheben, einen unförmigen Sack aus Nylonstoff mit Aluminiumgriffen. Wortlos geht sie zum Wasser, um über die Abkürzung den Strand entlang nach Hause zu gehen.
Ich hebe die Arme und atme schwer.
»Asha! Asha! Komm zurück!«
Aber die alte Frau, Asha, hört nicht, und bald ist sie nicht mehr zu sehen, verschwunden hinter Bootshäusern und Gestrüpp und einem alten, ramponierten Tretboot.
Der Brief ist weiterhin ungelesen. Er liegt im Schuhkarton, ganz unten, und als ich ihn hineingelegt habe, habe ich die Augen zusammengekniffen, um nichts von seinem Inhalt mitzubekommen.
Petter ist heute nicht gekommen, obwohl wir doch Fußball spielen wollten. Jetzt ist es zehn, und in der Dunkelheit trinke ich eine ganze Flasche Wein, ehe ich ins Bett gehe. Ich schlafe sofort ein.
34
»Ich find dich toll, Synne.«
Henrik war neun Jahre alt und Rebecca noch immer aus dem Gesicht geschnitten. Die heraufziehende Vorpubertät hatte sein Kinn zwar ein wenig breiter werden lassen als ihres, und die neuen Zähne hatten sein Gesicht ausgeweitet. Er wurde jetzt zu einem kleinen Mann, mit Füßen, die nach langen Tagen ziemlich übel riechen konnten. Aber die Augen, der Gesichtsausdruck, ja, sein ganzes Wesen war wie Rebeccas. Synne liebte diesen Jungen.
Sie hatte gedacht, das Wort »toll« sei nicht mehr in.
»Ich find dich auch toll«, sagte sie lächelnd. »Und wie.«
Es hatte ziemlich lange gedauert, bis er eine Strategie für den Umgang mit Synne gefunden hatte. Anfangs hatte er gestottert und war rot geworden, wann immer er versehentlich seinen Vater erwähnte. Von Rebeccas vier Kindern war er derjenige, der verstandesmäßig am wenigsten von den heftigen Konflikten begriffen hatte, die an seiner Familie rissen und zerrten, aber auf Kinderart hatte er trotzdem erfasst, dass es da etwas gab, etwas zwischen dem Vater und Synne, das schmerzlich war und nicht erwähnt werden durfte, und das frustrierte ihn, da er seinen Papa liebte und bewunderte und Synne trotzdem gern mochte. Er hatte Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass er mit Synne über seinen Vater sprechen konnte, nicht aber mit seinem Vater über Synne. Aber damit konnte er umgehen.
»Wann willst du sie anbringen?«
Er kniete auf dem Stuhl vor dem Esstisch, beugte sich zu ihr vor und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger vorsichtig eine kleine Galionsfigur hoch.
»Nannie? Die kommt ganz zuletzt dran. Sogar noch nach den Segeln.«
Martin konzentrierte sich auf ein kleines Holzstück, das er mit feinem Sandpapier bearbeitete.
»Wo soll es eigentlich hin, wenn es fertig ist?«, murmelte er.
»Wir werden sehen. Vielleicht nehme ich es mit zu mir nach Hause.«
»Neheihein!«
Alle drei protestierten.
»Das wäre gemein«, sagte Caroline. »Du hast es uns doch geschenkt.«
»Aber wir können es nicht in vier Teile sägen«, sagte Synne.
»Nur in drei«, grinste Martin und schaute von den Spanten hoch, die jetzt fast perfekt waren. »Benedicte scheißt da doch drauf.«
»He, he, he«, sagte Synne. »Solche Ausdrücke will ich hier im Haus nicht hören.«
Aber Benedicte schiss wirklich darauf. Da hatte Martin recht. Man konnte es ihr natürlich nicht zum Vorwurf machen, sie war siebzehn, und ihr Interesse an Modellschiffen hielt sich doch sehr in Grenzen. Sie schaute sich mit scheinbar bewundernswerter Konzentration Beverly Hills 90210 an. Dennoch wusste Synne, dass ihr nichts von dem entging, was sich im Zimmer abspielte.
So war es immer. Nie war sie Synne gegenüber unfreundlich. Aber sie machte sie nervös. Synne wusste nur wenig von den Fehden, die Benedicte bisweilen mit ihrer Mutter ausfocht, entsetzliche Streitereien, bei denen es eigentlich um Fragen von der Sorte ging, wann Benedicte zu Hause sein musste, doch bei denen diese das miese Verhalten ihrer Mutter und deren perverse Liebesbeziehung nach besten Kräften ausnutzte. Rebecca sprach nur selten darüber, aber sie lebten jetzt schon so lange auf diese seltsame Weise zusammen, sie hatten so viele Jahre am Telefon verbracht, dass Rebecca ihre Verzweiflung über diese Auseinandersetzungen vor Synne nicht verbergen konnte. Vermutlich waren die Streitereien noch häufiger und noch schlimmer, als Synne
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