Meade Glenn
Jungen saßen im Winter am Ufer der Moskva. Sie waren zwölf Jahre alt, umarmten einander und schauten mit ernsten Mienen in die Kamera. Seine Gedanken wanderten ein halbes Jahr zurück. Am Morgen eines heißen Julitages wurde Nikolais Vater eingeäschert. Nur die Asche in einer kleinen Gipsurne war geblieben. Nikolai war untröstlich.
Kursk erinnerte sich an den Spaziergang mit seinem Vater durch die Kornfelder. Der traurige Nikolai folgte ihnen, bis sie zu einer kleinen Anhöhe kamen, an der eine Weide am Ufer des Flusses stand. Sein Vater reichte Nikolai die Urne. »Du musst den Toten zur Ruhe betten. Sei ein braver Junge und tu deine Pflicht.«
Nikolai streute die Asche weinend aufs Wasser.
Kursks Vater sprach ein kurzes Gebet. »Es ist vollbracht. Jetzt hat dein Vater seinen Frieden.« Er zog den Jungen zu sich und drückte ihn an seine Brust. »Keine Tränen mehr. Es ist vorbei.«
Das war nicht der Fall. Nikolai Gorev umgab sich mit einer Mauer des Schweigens. Mitten in der Nacht hörte Alexei Nikolai weinen und nach seinem Vater rufen. Es dauerte lange, bis die Mauer einstürzte und Alexei das Vertrauen des neuen Familienmitgliedes gewann. Zuerst vertrauten sie sich belanglose Dinge an, teilten ihre wenigen Spielsachen und unterstützten sich bei Raufereien auf dem Schulhof. Allmählich wurden sie Kameraden und schließlich Freunde, bis sie eines Tages unzertrennlich waren. Alexei Kursk erinnerte sich gern an diese Zeit zurück.
» Wir sind Blutsbrüder. Vergiss das nicht. «
Kursk hatte es nicht vergessen. Es geschah an dem Tag, als die Aufnahme gemacht wurde. Nikolai und er hatten sich ihre Zeigefinger an einem Dornenbusch gestochen und ihr Blut zum Zeichen unverbrüchlicher Freundschaft vermischt. Zum ersten Mal seit Monaten vergaß Nikolai seinen Kummer und strahlte übers ganze Gesicht. »Jetzt sind wir nicht nur die besten Freunde, sondern Blutsbrüder, Alexei. Es ist so, als wären wir richtige Brüder, verstehst du? Wir sind für immer miteinander verbunden. Daran wird sich niemals etwas ändern. «
Ihre Kindheit war seit langer Zeit vorüber, und eines Tages trennten sich ihre Wege. Seit der Markov-Affäre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Durch diese Tragödie veränderte sich alles.
Kursk hatte den Bericht gelesen und kannte die Details.
In diesem ersten unerbittlichen Feldzug gegen die Tschetschenen 1994 ging die russische Armee hart gegen die Rebellen vor. Es wurden Gräueltaten verübt und unschuldige tschetschenische Zivilisten getötet. Die so genannte Markov-Affäre war in ihrer Grausamkeit kaum zu überbieten. Boris Markov war Befehlshaber einer Fallschirmjägereinheit mit vielen Auszeichnungen, der für sein brutales Vorgehen bekannt war. Die Russen vermuteten, dass die Rebellen in einem tschetschenischen Dorf an der Grenze Unterschlupf gefunden hatten. Markovs Truppen umzingelten das Dorf. Plötzlich donnerte ein Schuss durch die Luft, den ein junger rebellischer Heckenschütze abgefeuert hatte. Die Kugel verwundete einen von Markovs Soldaten tödlich. Markov raste vor Wut und befahl, ein Dutzend Männer und Jungen aus dem Dorf zusammenzutreiben. Drei von ihnen waren erst zwölf Jahre alt.
Wenn die Rebellen den Heckenschützen nicht auslieferten, sollten alle Geiseln hingerichtet werden. Der Todesschütze wurde nicht übergeben. Markov drehte durch und metzelte die Geiseln nacheinander mit seiner Maschinenpistole nieder.
Einer seiner Offiziere, Nikolai Gorev, der an den Tatort kam, mischte sich ein. Er schaffte es, Markov zu überwältigen, nachdem die meisten Geiseln bereits tot waren oder im Sterben lagen. Damit war der Vorfall jedoch nicht beendet. Markov wollte noch mehr Blut sehen. Er zog seine Pistole, um einen verängstigten, verwundeten Jungen, der wie durch ein Wunder überlebt hatte, zu erschießen. Als Markov seine Waffe hob, um den Jungen hinzurichten, feuerte Gorev wie von Sinnen mit seiner Kalaschnikow auf den Vorgesetzten, bis nicht mehr viel von ihm übrig war. Der Rest, Gorevs Verhaftung und Inhaftierung, seine Flucht und sein Übertritt zu den Tschetschenen, war Geschichte.
Jetzt sollte Alexei Kursk Nikolai Gorev finden und ihn gegebenenfalls töten. Könnte er jemanden töten, der für ihn einst so etwas wie ein Bruder gewesen war? Kursk hatte Angst. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit spürte er wahrhaftig Angst.
»Du verdammter Idiot, Nikolai«, sagte er laut, während er noch immer auf das Foto starrte. »Was, zum Teufel, hast du getan?«
DRITTER
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