Mecklenburger Winter
ein anderer Mann tun konnte. Dieser Idiot soll froh sein, dass er sich nur verbal eine eingefangen hatte. Es gab wenig Situationen, in denen Kai gewalttätig werden konnte, dies wäre definitiv eine gewesen. Die Wut kreiste noch immer heiß in seinen Adern und suchte ein Ventil.
Mehrfach setzte er an, die immer stärker lastende Stille mit einem lockeren Spruch zu durchbrechen. Es wollte ihm nicht gelingen. Zwischen ihnen lag noch immer tonnenschwerer Restmüll, den sie dringend beseitigen mussten, um einander endlich wieder in die Arme zu fallen. Zudem türmten sich auf Leons Seite diverse radioaktiv verseuchte Behälter, die alle die Aufschrift: „homophober Vater“ trugen. Und was für einer! Kai knirschte unwillkürlich mit den Zähnen. Wie zur Hölle hatte Leon es mit diesem Mann ganze achtzehn Jahre ausgehalten, ohne zu einem psychopathischen Massenmörder zu werden?
Nein, Leon hatte sich damit arrangiert. Den Kopf eingezogen, sich in seinen Bau verkrochen und gehofft, der Wolf würde irgendwann den Spaß daran verlieren, ihn zu bedrohen oder nach ihm zu schnappen. Die immer stärkeren Bisswunden hatte er geflissentlich ignoriert und nicht mitbekommen, wie dieses Raubtier, das sich Vater schimpfte - und dabei kaum mehr als ein verirrtes Spermium war - ihn langsam in Fetzen riss und seine Seele auffraß.
Nein, ein Wolf war kein gutes Beispiel. Kai mochte Wölfe. Er hoffte insgeheim immer, dass ihm eins dieser Tiere auf seinen langen Läufen im Wald begegnen würde. Es gab ein paar in der Gegend, er wusste es. Gesehen hatte er sie jedoch noch nicht. Wirklich beeindruckende Tiere und sie hatten in etwa so viel mit Burghardt gemeinsam, wie widerlich stinkende Gülle mit dem Appetit auf Sahnetorte.
Stinktier, Schwein, Mistkerl. Oh, in Gedanken gab Kai ihm noch viel schlimmere Schimpfnamen, bei denen es gedanklich ständig piepte. Eins war klar: Leon sollte froh sein, da weg zu sein. Völlig unmöglich, dass er zu diesem Erzeuger zurückkehren konnte. Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Oberstübchen. Was der dringend braucht, ist eine Therapie. So wie der sich benimmt, hat der mehr als einen Komplex. Nicht Leon und dessen zu unmännliches Aussehen ist Burghardts Problem.
Kais Ohren rauchten noch immer, als er in die Einfahrt einbog. Er wollte sich gar nicht wieder beruhigen. Wild kreiste überschüssiges Adrenalin in seinen Adern und es fiel ihm schwer, sich für Leon zurückzunehmen. Aber der hatte jetzt Priorität. Nur Leon zählte, der schon genug hatte einstecken müssen.
„Da wären wir“, durchbrach Kai hilflos das Schweigen. Es war dämmerig geworden und vermutlich würde es wieder eine kalte Nacht werden. Kai schauderte. Er hatte heute noch ein gewisses Laufpensum zu erfüllen. Aber erstmal würde er Leon versorgen. Wenn er wusste, dass es ihm gut ging, konnte er sich um sein Training kümmern.
Noch immer stumm folgte ihm Leon ins Haus, ließ seinen Rucksack im Flur zu Boden gleiten und zog seine Schuhe aus, ohne Kai anzusehen.
„Ich koche uns einen Tee, okay?“, bot dieser an, um seine nervösen Hände zu beschäftigen, die viel lieber Leons lädiertes Gesicht abtasten, oder noch lieber ihn an sich reißen wollten. Bestimmt keine wirklich gute Idee. Abermals nickte Leon nur und deutete mit dem Kopf aufs Wohnzimmer. „Ich packe meine Sachen dann da hin, ja?“
„Klar, du kannst dich überall breitmachen. Fühl dich ganz wie zuhause.“ Zuhause? Hirnverbrannter Idiot. Mit voller Wucht schlug sich Kai gedanklich selbst den Vorschlaghammer an den Kopf. Leon sagte nichts, marschierte an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Kai biss sich so hart auf die Lippe, dass er vor Schmerz aufzischte. Rasch verschwand er in der Küche. Er musste seine Zunge einfach besser im Griff haben, so schwer es ihm fiel. Oder sie abschneiden, dann würde ihm vielleicht nichts Falsches mehr rausrutschen.
Seine Hände zitterten ganz leicht, als er den Tee aufgoss und krampfhaft versuchte nicht daran zu denken, dass Leon hier war. Ein ziemlich traumatisierter Leon, der viel Zuspruch und Nähe brauchen würde. Aber nicht unbedingt ganz die Nähe, die Kai vorschwebte. Und überhaupt: Wie viel würde Leon zulassen? Zwischen ihnen schwebte immer noch diese dunkle Wolke aus wochenlangem Schweigen.
Als Kai mit den Teetassen in der Hand das Zimmer betrat, saß Leon auf dem Sofa und schaute aus dem Fenster. Das künstliche Licht verstärkte die Schatten in seinem Gesicht und machte aus dem Bluterguss ein hässliches Muster.
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