Mecklenburger Winter
Schlafstörungen, Hitzewallungen und Schweißausbrüche, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, schwankende Gemütszustände, Aggressivität … Ach du heilige Scheiße!
„Basedowoides Übertraining wird nicht immer gleich erkannt“, bemerkte der Arzt. „Dabei kommt es häufig vor. Gerade auf Ihrem Leistungslevel kann es schnell zu viel werden, wenn sie Einheiten kumulieren. Dieser Muskelfaserriss kam nicht von ungefähr. Da lag ein Mikroschaden zugrunde. Ich vermute eine verhärtete Muskulatur und mangelhaften Laktatabbau.“
„Hölle verdammte.“ Kai fluchte ungeniert. Wie hatte er nur so dumm sein können? Es lag glasklar auf der Hand und er hatte es dennoch nicht gesehen. Bei all den Schwierigkeiten in der Beziehung zu Leon, war er völlig blind für seinen Körper und die typischen Anzeichen geworden. Die Zeit ihrer Trennung fiel ihm ein, da hatte er versucht, den Frust wegzulaufen und offensichtlich schlichtweg die Grenze zu oft überschritten. Die Rechnung zahlte er jetzt. Mit Zins und Zinseszins.
„Kein Grund zur Sorge. Davon erholen Sie sich schnell“, meinte der Arzt beruhigend. „Ihr Herz hat scheinbar keinen Schaden erlitten. Ich würde Ihnen dennoch zu einem EKG raten, nur um sicher zu gehen. Ohnehin werden Sie sich die nächsten Wochen keinen Belastungen aussetzen dürfen, selbst wenn das Bein nicht mehr schmerzen sollte. Schonen Sie den Oberschenkel lange genug, sonst reißen womöglich noch weitere Fasern oder gar der ganze Muskel.“ Kai saß wie betäubt da und starrte auf den Verband. Übertraining? Er? In seinem Kopf spulten sich die Lehrsätze ab: Ursachen für Übertraining können unter anderem sein: seelische Belastungen, Schwierigkeiten in der Beziehung …
„Oh Mann.“ Kai stöhnte und verbarg das Gesicht in den Händen. Das war nicht nur schlimm, das war das Peinlichste, was ihm passieren konnte. Sah man mal von dem Blackout beim Nicht-mal-bis-zum-richtigen-Sex-gekommen mit Leon ab, der natürlich auch keine andere Ursache gehabt hatte. Eine Peinlichkeit nach der anderen. Am besten begrub er sich gleich ganz tief und kam nie wieder aus dem Loch heraus.
Er fühlte sich hundeelend, als er neben Basti auf Krücken zum Auto hüpfte und dessen mitleidigen Ausdruck ertrug. Da konnte ihn auch die freudige Nachricht nicht aufmuntern, dass Lars den dritten Platz belegt hatte. Bastis Fürsorge, der ihm anbot, ihn heimzufahren, konnte ihn ebenso wenig aus seinem schwarzen Loch reißen. Mit seiner Verletzung war nicht nur die Challenge gestorben, er musste sich auch seinem Sponsor erklären. Und der Rest der Saison? Mit dem Trainingsverlust konnte er vordere Plätze glatt vergessen. Scheiße, scheiße, scheiße.
Die Welt war urplötzlich grau und dunkel geworden, trotz der sommerlichen Temperaturen. Es gab nur einen winzigen Lichtblick und das war Leon, sein Schneehase, der ihn heute Nacht trösten würde. Heiße Sehnsucht erfüllte Kai und es ging ihm schlecht genug, dass er sich tatsächlich in dessen Arme wünschte. Sein Geliebter, der ihn hielt und bei dem er seinen Frust freiheulen durfte. Was er natürlich nie tun würde. Aber es war schön zu wissen, dass er es könnte.
Leon war natürlich noch nicht da, als Basti ihm in die Wohnung half und Gesellschaft leistete, bis Lars mit Kais Auto kam und ihn abholte. Mühsam riss Kai sich in der Zeit zusammen, bot ihm Kaffee an und hätte sich doch am liebsten einfach ins Bett verkrochen. Die Schmerzmittel wirkten gut genug, aber der Frust schlug ihm auf den Magen und er war froh, als die beiden sich mit weiteren, bedauernden Worten kurz und schmerzlos verabschiedeten.
Er rechnete es seinen Freunden hoch an, dass sie nicht versuchten, ihn aufzumuntern. Gerade Lars wusste haargenau, was in Kai vor sich ging.
Sein Handy brummte und er zog es, auf dem Sofa liegend, hervor. Eine weitere SMS von Leon. Er hatte die anderen vorher ignoriert. Ihm war auch jetzt nicht danach, denn das Selbstmitleid hielt ihn in seinen Fängen. Andererseits interessierte es ihn, wie es Leon ergangen war, dem hoffentlich mehr Glück beschieden war. Die letzte SMS enthielt nur wenige Worte: „Geschafft. Sind heil durch und warten auf die Siegerehrung. Ich erzähle dir später alles ausführlich. Wie ist es bei dir gelaufen?“
„Beschissen“, brummte Kai. „Du glaubst gar nicht, wie beschissen.“ Seufzend legte er das Handy weg und schloss die Augen. Schon wieder würde er auf dem Sofa liegen, wenn Leon heimkam. Viel invalider als vorher. Die Wut kroch
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