Medaillon des Schicksals (German Edition)
zog ihn tänzelnd mit sich über die Bühne nach der Seite, die das Grab darstellen soll, und stieß ihn schließlich in dasselbe hinein. Dann kehrte der Tod zur Mitte der Bühne zurück und rief der Reihe nach alle geistlichen und weltlichen Würdenträger, jeden Stand und jede Altersklasse, sie alle dargestellt von den Schauspielern aus der Wagenkolonne, mit denen Paola mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht hatte. Mit jedem Einzelnen tanzte der Tod in gleicher Weise über die Bühne bis zum Grab, und der Tanz wurde begleitet von einer einförmigen, sich stets wiederholenden Melodie.
Obwohl diese Art des Abschieds außerhalb der Reihen Gaukler und Händler als makaber empfunden wurde, spürte Rosaria sehr deutlich den Trost, der in diesem Stück, in diesem Totentanz verborgen lag.
Ja, dieser Tanz und das Mitgefühl ihrer Wagenfamilie waren es, die Rosaria halfen, die Trauer und das Leid zu ertragen. Doch aller Trost dieser Welt konnte die Tatsache nicht verleugnen, dass Rosaria von nun an mutterseelenallein auf der Erde war. Nun hatte sie niemanden mehr, keinen Vater, keine Mutter, keine Geschwister.
Als hätte Raffael ihre Gedanken erahnt, kam er am Abend zu ihr, nahm ihre Hand und verkündete laut, sodass alle ihn gut verstehen konnten, er werde noch in dieser Nacht zu Rosaria in den Wagen ziehen, damit sie nicht ohne Schutz sei. Die Hochzeit, die eigentlich für den Spätsommer in Florenz geplant sei, könne man genauso gut vorziehen, denn man dürfe eine Frau nicht ohne den Schutz einer Familie lassen.
Am Feuer verstummten die Gespräche. Alle sahen zu Rosaria, die Raffael ihre Hand entzog, sich von ihm abwandte und plötzlich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Zwar hatte sie in den letzten Tagen häufig geweint, und ein jeder hatte es verstanden, doch diese Tränen weinte sie nicht aus Trauer um Paola.
Rosaria weinte, weil sie im tiefsten Grunde ihres Herzens nicht mit Raffael einen Wagen teilen wollte – und eigentlich auch nicht ihr restliches Leben. Als sie an ihren Schwur in der Kirche dachte, als sie vor dem Angesicht des Herrn am Kreuze versprochen hatte, Raffael eine gute Frau zu sein, fühlte sie sich wie eine Frau, die in eine Falle geraten war. Und obgleich sie dieser Falle nicht entrinnen konnte und es für sie tatsächlich keine anderen Zukunftsaussichten gab, weinte sie doch jetzt, um wenigstens einen Aufschub zu erringen. Rosaria wusste, dass es in ihrem Leben keine Liebe geben durfte, denn Liebe war für sie gleichbedeutend mit Tod. Und doch konnte sie nichts dagegen tun, dass ihr die Aussicht, den Rest ihres Lebens mit Raffael zu verbringen, ebenfalls wie ein kleiner Tod erschien.
So manche der Frauen aus der Kolonne fühlte, was gerade jetzt in Rosaria vor sich ging. Doch Ambra war es schließlich, die Rosaria zu Hilfe kam.
»Halt ein, Raffael. Rosaria hat einen schweren Verlust erlitten. Sie muss sich erst daran gewöhnen, ihr Leben fortan ohne Paola zu führen. Das braucht Zeit, und diese Zeit muss sie haben. Wir alle hier sind Rosarias Familie, sind es immer gewesen und werden es auch für immer sein.«
»Doch als ihr zukünftiger Mann ist es meine Pflicht, jetzt nahe bei Rosaria zu sein«, widersprach Raffael und bedachte die alte Wahrsagerin mit einem wütenden Funkeln aus seinen tief dunklen Augen.
»Wir sind fahrendes Volk«, erinnerte Ambra ihn. »Und trotzdem gute Christenmenschen. Für Christen ziemt es sich nicht, schon vor der Ehe beieinander zu liegen. Dieses Gebot unserer Heiligen Mutter Kirche werden wir respektieren und einhalten, auch wenn unser Leben sich in vielen Dingen von einem bürgerlichen Leben unterscheidet.«
Das zustimmende Gemurmel in der Runde ließ Raffaels Verärgerung noch deutlicher zutage treten.
»Dann lasst uns schon morgen heiraten, dann verstoßen wir nicht gegen die Gesetze der Kirche«, beharrte er.
Ambra und die anderen Frauen blickten zu Rosaria, die sich wie ein Kind an die Frau des Scherenschleifers gelehnt hatte und noch immer heiße Tränen vergoss.
»Wie kannst du verlangen, dass Rosaria ihre Hochzeit, die doch den glücklichsten Tag im Leben einer Frau darstellen sollte, in tiefer Trauer begeht? Soll deine Ehe unter Tränen geschlossen und vollzogen werden?«, wollte jetzt die Feuerschluckerfrau von ihrem Sohn wissen.
Raffael antwortete nicht, und der älteste Schauspieler, der gleichzeitig der Alteste in der Wagenfamilie war, ergriff nun das Wort. Sein Wort war Gesetz, so wie er entschied, würde es geschehen. Doch nur
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