Medaillon des Schicksals (German Edition)
selten hatte er in der Vergangenheit von seinem Recht Gebrauch gemacht. Sie waren Fahrende, ja, und konnten sich deshalb nicht immer an alle Gesetze, Regeln und Konventionen des Landes halten. Doch diesmal erschien es ihm notwendig, einzugreifen.
»Rosaria wird mit meiner Familie zusammenwohnen, bis sie deine Frau geworden ist. Noch heute wird ihr Wagen hinter unseren gestellt. Ob sie allein darin schlafen wird oder unsere älteste Tochter bei sich haben möchte, kann sie später entscheiden. Eure Hochzeit aber wird erst stattfinden, wenn Rosaria die schlimmste Trauer um ihre Mutter überwunden hat. Es bringt Unglück, wenn man in Trauer heiratet. Unglück über uns alle. Unglück, das wir nicht brauchen können, denn unser Leben ist schwer genug.«
Erschöpft von seiner bedeutungsschweren Rede, ließ sich der Älteste einen Becher Wein reichen und behielt dabei Raffael sorgfältig im Blick. Es war ein regelrechter Kampf, den die beiden Männer, der junge und der alte, mit ihren Blicken ausfochten.
Ich will mich nicht an deine Regeln halten, sagte Raffaels Blick. O doch, das wirst du, erwiderten die blitzenden Augen des Alten. Wir sind eine Familie und haben unsere Gesetze. Wer sich an diese Gesetze nicht hält, kann nicht länger bei unserer Familie sein.
Endlich senkte Raffael den Kopf und setzte sich hin. Rosaria trocknete ihre Tränen und vermochte vor lauter Erleichterung über die Verschiebung ihrer Hochzeit sogar ein wenig Mitleid mit ihrem Bräutigam zu empfinden.
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5. Kapitel
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Donatella di Algari saß mit einem Stickrahmen am Fenster und ließ den Blick über die sanften Hügel der Toskana schweifen. Sie betrachtete die Zypressen, die den Zugang zur Burg säumten und wie Soldaten einer dunklen Garde wirkten.
Eine Lerche schwang sich jubilierend aus dem Wipfel einer Zypresse in die Lüfte. Wie ein Pfeil schoss sie dem Himmel entgegen, der wie ein Tuch aus kostbarer blassblauer Seide die ganze Toskana bedeckte.
Die Contessa sah der Lerche wehmütig nach. Fliegen wie ein Vogel, dachte sie. Sich einfach zum Himmel aufschwingen, die Erde mit all ihren Kümmernissen und Sorgen hinter sich lassen und einmal noch der Sonne nahe sein.
Neben ihr saß Daria, die Älteste, die nunmehr einzige Tochter und Vertraute, die die Contessa noch hatte. Die jüngere Tochter hatte sie an die Schwindsucht verloren. Tagelang hatte Donatella am Bett des damals achtjährigen Mädchens gesessen und um Genesung gebetet. Vergeblich. Das Mädchen war gestorben, und manchmal war die Contessa sogar froh darüber, denn so blieb dem Kind wenigstens ein Schicksal wie das ihre erspart.
Darias Stimme riss sie aus den Gedanken. Die Tochter saß auf einer Fensterbank, reckte das Gesicht den Strahlen der Sonne entgegen und hielt dabei ein Buch, das in kostbares rotes Leder gebunden war, auf dem Schoß. Es war ein Band mit Gedichten von Francesco Petrarca, dem Dichter der Toskana.
Eben schlug sie das Buch auf, sah ihre Mutter fragend an, und als diese nickte, las sie:
»So ist der Lauf der Welt! Jetzt freut mich und gefällt
mir, was früher mir missfiel; jetzt
sehe ich und spüre,
dass ich mir Qualen
schuf, wenn ich mir Heil erhoffte
und kurzen Krieg um eines ewigen Friedens willen.«
Wieder seufzte die Contessa. Recht hatte er, dieser Petrarca aus Arezzo, von dem man sagte, er habe sein Leben lang eine unerreichbare Frau geliebt.
Ihr Blick fiel auf Daria. Für sie wird es keine Liebe geben, dachte die Contessa traurig und betrachtete das entstellte Gesicht ihrer Tochter. Der Ausschlag war vor vielen Jahren über Nacht gekommen und hatte sich über den ganzen Körper ausgebreitet. Keine Salbe, kein Wickel, keine Tinktur wollten helfen. Aus der ganzen Toskana hatte Donatella di Algari die Heilkundigen, Ärzte und Bader auf die Burg gerufen, doch niemand hatte Daria helfen können. Immer schlimmer war der Ausschlag geworden und hatte inzwischen das Gesicht mit unzähligen kleinen Narben und eitrigen Pusteln übersät.
Daria sah zu ihrer Mutter und lächelte sie an.
»Ach, Mutter, bitte, lächelt doch auch einmal«, sagte sie mit weicher Stimme.
»Daria, Liebling, mir fällt nicht ein, warum ich lächeln sollte. Es ist, als gäbe es für mich auf dieser Welt keinen Grund mehr zur Freude.«
»Ihr wisst, dass das nicht stimmt, Mutter.«
Donatella ließ den Blick erneut aus dem Fenster schweifen. Unten vom Burghof drangen laute Geräusche bis zu ihrer Kammer hinauf. Hufgeklapper, Waffengeklirr, Hundebeilen und die lauten, rauen
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