Medaillon des Schicksals (German Edition)
sollte sich hüten, mit den Eschen Unfug zu treiben. Sie haben die Macht, Stimmungen zu verstärken. Ist jemand glücklich unter einer Esche, so verdoppelt sich sein Glück. Geschieht Leid, so verdoppelt sich auch dies. Am Rascheln der Blätter kannst du es hören.«
Schließlich ging die Eschenallee in eine Zypressenallee über, und die Kolonne atmete auf. Doch auch hier war irgendetwas anders als sonst. Rosaria lauschte in die anbrechende Nacht, und plötzlich wusste sie, was es war.
Etwas fehlte. Etwas für die Toskana ganz und gar Typisches.
»Ich höre keine Grillen zirpen«, sagte sie. »Sollte die Burg di Algari der einzige Ort in der ganzen Toskana sein, an dem es an Grillen mangelt?«, fragte sie die Wahrsagerin.
Doch diese antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern und gab ihrem Pferd die Peitsche, auf dass es schneller trabte.
Nach der nächsten Wegbiegung konnten die Fahrenden bereits die Fackeln am Burgtor erkennen. Die Bediensteten warteten schon, nahmen den Ankommenden die Pferde ab und geleiteten sie mit brennenden Fackeln in die Gesindestube, wo ein recht kärgliches Mahl auf sie wartete.
Die Mägde und Knechte, an Besuch auf der Burg nicht gewöhnt, befragten die Gaukler nach Neuigkeiten aus der Stadt. Als alle mit Antworten versorgt waren, zeigte man den Fahrenden ihr Nachtlager und löschte die Kerzen.
Am nächsten Morgen wachte Rosaria aus einem unruhigen Schlaf auf. Sie fühlte eine Traurigkeit in sich, die nicht vom Tode der Mutter herrührte. Nein, das, was sie fühlte, war eine Traurigkeit, die aus der Tiefe ihrer Seele kam und sie zum Frieren brachte, wie man im Angesicht eines großen Unglücks friert.
Rosaria seufzte und wollte mit einem Lächeln die dunklen Wolken vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen wurde sie von den düsteren Traumbildern der Nacht verfolgt. Sie hatte geträumt, mit unter dem Kopf verschränkten Armen unter einem Olivenbaum zu liegen, der bestimmt schon einhundert Jahre alt war. Die unteren Äste krümmten sich zur Erde hinab und streiften den Boden, streiften am Rande auch Rosaria. Äste waren es, die es trotz aller Mühe nicht schafften, sich über alles Irdische hinweg zum Himmel zu erheben. An manchen Stellen bogen sie sich wie ein menschlicher Ellbogen, an anderen Stellen hatten sich Knoten und Schlingen geformt. Während Rosaria mit ihren Blicken dem Verlauf der Äste folgte, beugten diese sich plötzlich zu ihr herab, wurden zu Armen, zu Krallen: borstige Gebilde, die nach ihrem Körper griffen, um ihn sich zu holen. Und während die Äste nach ihr fassten, sich auf sie warfen und unter sich zu ersticken drohten, wurde aus dem lieblichen Säuseln des Windes, dem sie kurz zuvor noch traumverloren gelauscht hatte, ein boshaftes Raunen. Ein Raunen, Zischen und schließlich drohendes Flüstern, das verhieß: »Deinem Schicksal kannst du nicht entgehen, Rosaria. Zu spät. Du hast deinen Fuß in das Reich der Dunkelheit gesetzt und wirst darin umkommen. Es sei denn, der Liebste dein wird dich bewahren.«
»Aber ich habe keinen Liebsten«, wollte Rosaria im Traum rufen, »und auch keine Mutter, die mich bewahren kann.«
Und der Baum raunte zurück: »Recht hast du, Rosaria, denn Raffael ist nicht dein Liebster. Er kann dich nicht schützen, weil du ihn nicht liebst. Blind bist du, Rosaria, blind und taub für die Gefahr.«
Doch plötzlich, als der Baum mit seinen Ästen nach ihrem Körper griff, da wurden die Zweige auseinandergebogen und der Mann mit den Augen von der Farbe der Olivenbaumblätter kämpfte mit den drohenden Ästen, kämpfte mit aller Kraft, doch immer und immer wieder griffen die Zweige nach ihm, schlugen auf ihn ein, drohten auch ihn zu verschlingen ...
Schweißgebadet war Rosaria aufgewacht, und selbst jetzt überfiel sie ein Zittern, wenn sie an den Traum dachte. Mit Macht musste sie sich zur Ordnung rufen und sich klarmachen, dass sie hier in der Burg der di Algaris nichts zu befürchten hatte.
Sie erschrak, als sie plötzlich ein Klopfen an der Tür hörte. Mit bebender Stimme rief sie: »Ja, bitte« und atmete auf, als sie eine Magd vor sich sah.
»Die Contessa Donatella bittet Euch, in ihre Gemächer zu kommen.«
Rosaria sah die Magd fragend an: »Wisst Ihr, was die Contessa möchte? Verlangt es sie nach einer Kostprobe meines Öles? Oder geht es um ein Mittelchen gegen Kopfweh? Hat sie nach Salben und Cremes gefragt?«
Die Magd schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht, Händlerin. Die Contessa
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