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Medicus 01 - Der Medicus

Titel: Medicus 01 - Der Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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zwischen Qasims spärliche Habseligkeiten.
    Es war nach Mitternacht, und fast das ganze Krankenhaus schlief. Dann und wann schrie ein Patient auf oder weinte. Niemand sah Rob, als er Qasims armseligen Besitz aus dem kleinen Raum entfernte. Während er den Holztisch hineintrug, begegnete er einem Pfleger. Der aber nahm von ihm gar nicht Notiz. Er schaute weg und hastete an dem hakim vorbei, damit dieser ihm nicht noch mehr Arbeit aufbürden konnte.
    In der Kammer legte Rob unter zwei Beine des Tisches ein Brett, so daß er schräg stand, und unter die niedrige Kante stellte er eine große Waschschüssel. Er brauchte genügend Licht und schlich im maristan herum, um sich vier Lampen und ein Dutzend Kerzen zu besorgen, die er um den Tisch anordnete, als wäre dieser ein Altar.
    Dann holte er Qasim aus dem Leichenhaus und legte ihn auf den Tisch. Schon als Qasim im Sterben lag, hatte Rob gewußt, daß er das Verbot brechen würde.
    Doch nun war der Augenblick gekommen, und das Atmen fiel ihm schwer. Er war kein altägyptischer Einbalsamierer, der einen verachteten paraschisten herbeirufen konnte, damit dieser den Körper öffnete und die Sünde auf sich nahm. Er mußte die Tat und die Sünde, wenn es eine war, auf sich nehmen.
    Er ergriff ein gebogenes chirurgisches Messer, ein sogenanntes bistouri , machte einen Einschnitt und schlitzte den Bauch von der Leistengegend bis zum Brustbein auf. Das Fleisch leistete keinen Widerstand und begann leicht zu bluten.
    Rob wußte nicht, wie er vorgehen sollte, und löste zuerst die Haut vom Brustbein. Dann verlor er den Mut. Er hatte in seinem ganzen Leben nur zwei unvergleichliche Freunde gehabt, und beide waren gestorben, weil man ihren Körper grausam verletzt hatte. Wenn er ertappt wurde, würde er auf die gleiche Weise sterben, aber er würde außerdem noch geschunden werden, die schlimmste Marter. Er verließ die kleine Kammer und schlich nervös durch das Krankenhaus. Doch die Menschen, die noch wach waren, beachteten ihn nicht. Er hatte das Gefühl, als habe sich der Boden unter ihm geöffnet, und er gehe auf Luft, doch nun glaubte er, tief in einen Abgrund zu blicken. Er holte eine Knochensäge mit kleinen Zähnen aus dem kleinen Operationsraum und sägte das Brustbein durch, indem er die Wunde nachahmte, die Mirdin in Indien davongetragen hatte. Am unteren Ende der Öffnung setzte er einen Schnitt von der Leistengegend zur Innenseite des Oberschenkels und erhielt so einen breiten, unförmigen Lappen, den er zurückschlagen konnte, womit er die Bauchhöhle bloßlegte. Unter der rosa Bauchhaut bestand die Bauchdecke aus rotem Fleisch und weißlichen Sehnensträngen, und sogar im Gewebe des mageren Qasim gab es gelbe Fettkügelchen. Der dünne Innenbelag der Bauchwand war wund und mit einer geronnenen Substanz bedeckt. Zu Robs Verblüffung schienen die Organe gesund zu sein bis auf den Dünndarm, der gerötet und an vielen Stellen entzündet war. Selbst die kleinsten Gefäße waren so mit Blut gefüllt, daß sie aussahen, als wären sie voll roten Wachses. Ein kleiner, sackähnlicher Teil des Darmes war ungewöhnlich schwarz und haftete an der Bauchdecke. Als er versuchte, die beiden durch vorsichtiges Ziehen voneinander zu trennen, riß ein Häutchen, und zwei oder drei Löffel voll Eiter kamen zum Vorschein. Das mußte die Infektion gewesen sein, die Qasim so starke Schmerzen bereitet hatte. Rob hegte den Verdacht, daß Qasims Qualen aufgehört hatten, als das kranke Gewebe aufgebrochen war. Eine dünne, dunkle und übelriechende Flüssigkeit hatte sich an der entzündeten Stelle in der Bauchhöhle angesammelt. Er tauchte die Fingerspitze hinein und roch neugierig daran, denn das konnte das Gift sein, das Fieber und Tod verursacht hatte.
    Er wollte noch andere Organe untersuchen, hatte aber zuviel Angst. Also nähte er die Bauchdecke sorgfältig zu, damit Qasim Ibn Sahdi als ganzer Mensch aus dem Grab zum Leben erweckt werden konnte, falls die heiligen Männer recht hatten. Dann kreuzte er die Handgelenke, band sie zusammen und schlang ein großes Tuch um die Lenden des alten Mannes. Er wickelte den Toten sorgfältig in ein Leichentuch und trug ihn wieder ins Leichenhaus. Am Morgen würde er begraben werden.
    »Ich danke Euch, Qasim«, flüsterte er ernst. »Ruhet in Frieden!« Er nahm eine Kerze in die Bäder des maristan mit, schrubbte sich sauber und wechselte seine Kleidung. Aber er hatte den Eindruck, daß der Geruch des Todes noch immer an ihm haftete, und

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