Medicus 03 - Die Erben des Medicus
diesem Tag wenigstens zu versuchen, den Pfad fertigzustellen. Sie stand früh auf und nahm sich kaum Zeit fürs Frühstück, da sie so schnell wie möglich draußen sein und mit der Arbeit beginnen wollte. Als sie das Geschirr abräumte, hörte sie ein Kratzen an der Tür zum Hof, und sie ließ Agunah ins Haus. Wie gewöhnlich wurde sie von Agunah ignoriert. Die Katze inspizierte das Haus und wartete dann an der Vordertür, bis sie wieder herausgelassen wurde. R.J. hatte es aufgegeben, ihrer hochnäsigen Besucherin besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie öffnete die Tür, um das Tier hinauszulassen, aber Agunah zögerte, machte einen Buckel und stellte mit gesträubtem Fell den Schwanz auf. Sie sah aus wie die Karikatur einer irritierten Katze, und plötzlich drehte sie sich um und lief zurück ins Haus.
»Was ist denn los, Agunah? Wovor fürchtest du dich?«
Aber schon schloß sie die Tür, drehte in beinahe panischem Schrecken den Schlüssel im Schloß um und spähte durch das Fenster nach draußen.
Eine sehr große schwarze Gestalt kam gemächlich über die Wiese auf das Haus zu. Der Bär stapfte durch das hohe Gras. R.J. hätte nie geglaubt, daß ein Bär in den Hügeln von Massachusetts so groß werden kann. Das große männliche Tier war zweifellos jenes, dessen Spuren ihr seit Wochen im Wald aufgefallen waren. Wie gebannt stand sie da, urfähig, das Fenster auch nur so lange zu verlassen, daß sie ihre Kamera hätte holen können.
Einige Meter vor dem Haus blieb der Bär unter dem Holzapfelbaum stehen und stellte sich auf die Hinterläufe, um an ein paar verschrumpelten Äpfeln vom letzten Jahr zu schnuppern. Dann ließ er sich wieder auf alle viere fallen und trottete aus ihrem Blickfeld zur Flanke des Hauses.
R.J. rannte die Treppen hinauf zu ihrem Schlafzimmerfenster und schaute direkt auf ihn hinunter. Er starrte sein Spiegelbild im Glas eines Erdgeschoßfensters an; R.J. war sich ziemlich sicher, daß er glaubte, einen anderen Bären vor sich zu haben, und sie hoffte, er werde nicht aggressiv werden und das Fenster einschlagen. Die zotteligen schwarzen Haare an seinem Hals und seinen Schultern schienen sich aufzustellen. Der große, breite Kopf war leicht zur Seite geneigt, und seine Augen, die zu klein schienen für diesen massiven Kopf, funkelten vor Feindseligkeit.
Einen Augenblick später wandte er sich von seinem Spiegelbild ab. Von R.J.s Blickwinkel aus wirkte die Kraft seiner massigen Schultern und der überraschend dicken, langen Beine überwältigend.
Zum erstenmal in ihrem Leben spürte R.J., wie sich ihre Nackenhaare tatsächlich aufrichteten. Agunah und ich, dachte sie.
Sie sah dem Bären nach, bis er wieder im Wald verschwunden war, dann ging sie in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl sinken und blieb dort bewegungslos sitzen. Die Katze lief nun, wenn auch noch etwas ängstlich, wieder zur Haustür. Als R, J. sie diesmal öffnete, zögerte Agunah nur einen Augenblick, dann lief sie in entgegengesetzter Richtung zu der, in die der Bär verschwunden war, davon. R.J. setzte sich wieder. Jetzt kann ich unmöglich in den Wald gehen, sagte sie sich.
Und doch wußte sie, wenn sie den Pfad an diesem Tag nicht fertigstellte, würde sie wahrscheinlich sehr lange nicht mehr dazu kommen.
Nach einer halben Stunde ging sie in die Scheune, füllte in die Kettensäge Benzin und Öl nach und machte sich auf in Richtung Wald. Jan Smith hatte ihr gesagt, daß Bären die Menschen fürchteten und ihnen aus dem Weg gingen, aber kaum hatte sie den dunklen, schattigen Pfad betreten, bekam sie es mit der Angst zu tun, denn sie war sich bewußt, daß sie ihr eigenes Territorium verlassen und das des Bären betreten hatte. Jan hatte ihr versichert, daß Bären sich, wenn Geräusche oder ähnliches sie vor der Anwesenheit eines Menschen warnten, aus dem Staub machten, und sie hob deshalb einen Stock auf und schlug mit ihm auf den Griff der Säge. Jan hatte ihr auch gesagt, daß Pfeifen für Bären keine Warnung darstellte, da sie an Vogelgeräusche gewöhnt seien. Deshalb fing sie an zu singen, so laut sie konnte, Songs, die sie als Teenager auf dem Harvard Square gesungen hatte, »This Land Is Your Land« und dann »Where Have All The Flowers Gone«. Sie war mitten in »When The Saints Go Marching In«, als sie ihre neue Brücke erreichte und überquerte.
Erst als der Motor der Kettensäge knatternd ansprang, fühlte sie sich sicher, und sie stürzte sich förmlich auf das Gestrüpp, um ihre Angst mit
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