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Medicus 03 - Die Erben des Medicus

Titel: Medicus 03 - Die Erben des Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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der Symptome erzählte Harold Palmer ihr begeistert, wie sehr er sich freue, wieder in Woodfield zu sein. »Man kann einem Landjungen das Land einfach nicht austreiben.«
    »Und wie gefällt es Ihnen hier bei uns, Mr. Dewalski?«
    »Ach, sehr gut.« Er lächelte. »Man hat mich gewarnt, ich würde hier unter lauter kalten Yankees leben, aber die Yankees, die ich bis jetzt getroffen habe, waren freundlich und herzlich. Außerdem scheinen hier in der Gegend die polnischstämmigen Farmer in der Mehrheit zu sein, denn wir haben bereits zwei Einladungen zu hausgemachten Kielbasa, Golumpki und Galuska erhalten, die wir natürlich mit Freuden angenommen haben.«
    »Die du mit Freuden angenommen hast«, sagte Harold Palmer lachend, und in gutmütigem Disput über die polnische Küche verließen die beiden Männer die Praxis. In der folgenden Woche kam Harold allein, um sich eine Spritze geben zu lassen. Binnen Minuten lag er heftig schluchzend in R.J.s Armen. Sie drückte seinen Kopf an ihre Schulter, strich ihm übers Haar, umarmte ihn, sprach ihm gut zu - tat, was in der Möglichkeit des Arztes steht. So entstand zwischen ihnen eine Beziehung, wie sie notwendig war für Harolds langen Leidensweg.
    Für viele ihrer Patienten waren es schwierige Zeiten. Zwar meldeten die Fernsehnachrichten steigende Aktienwerte, aber die wirtschaftliche Lage in den Hügeln war schlecht. Eines Tages wurde Toby wütend, weil eine Frau, die nur ihre jüngste Tochter zu einer Untersuchung angemeldet hatte, mit allen drei Kindern zu dem Termin erschien. Doch Tobys Zorn verrauchte, als sie merkte, daß die Frau nicht versichert war und mit ziemlicher Sicherheit auch kein Geld für drei Untersuchungen hatte.
    Ausgerechnet an diesem Abend hörte R.J. in den Nachrichten einen US-Senator, der zum wiederholten Male voller Arroganz behauptete, es gebe keine Krise des Gesundheitssystems in Amerika.
    Manchmal fand R.J. am Donnerstagmorgen eine große Gruppe Demonstranten vor der Klinik, dann wieder waren es nur wenige. R.J. fiel auf, daß die Protestierenden, wenn nur an einem Tag das Wetter schlecht war, durchaus erschienen, daß sie aber wegblieben, sobald es mehrere Tage hintereinander regnete - bis auf eine Ausnahme: die Frau mit dem ruhigen Blick. Gleichgültig, wie das Wetter war, sie stand immer da, doch schrie sie nie und schwenkte auch nie ihr Schild. Jeden Donnerstag nickten sie und R.J. einander zu, eine geheime, widerwillige Anerkennung der Menschlichkeit im Gegner. An einem windigen, regnerischen Morgen kam R.J. besonders früh zur Klinik und sah die Frau in einem gelben Regenmantel allein auf der Straße stehen. Sie nickten sich wie üblich zu, und R.J. ging die Treppe hoch, kehrte dann aber noch einmal um. Wasser tropfte vom Regenhut der Frau. »Hören Sie, ich möchte Sie gerne auf eine Tasse Kaffee einladen. In dem Cafe an der Ecke.«
    Sie sahen einander schweigend an. Schließlich nickte die Frau. Auf dem Weg zum Café hielt sie bei einem Volvo -Kombi an und verstaute ihr Schild.
    Im Café war es warm und trocken, der Raum hallte wider vom Geschirrgeklapper und den rauhen Stimmen von Männern, die sich über Sport unterhielten. Die beiden zogen ihre Regenkleidung aus und setzten sich einander gegenüber an einen Tisch.
    Die Frau lächelte dünn. »Soll das ein fünfminütiger Waffenstillstand sein?«
    R.J. sah auf die Uhr. »Machen wir zehn Minuten draus! Dann muß ich in der Klinik Dienst tun. Ich bin übrigens Roberta Cole.«
    »Abbie Oliver.« Die Frau zögerte kurz und streckte dann die Hand aus. R.J. nahm sie.
    »Sie sind Ärztin, nicht?«
    »Ja. Und Sie?«
    »Lehrerin.«
    »Welches Fach?«
    »Englisch für die Unterstufe.«
    Beide bestellten koffeinfreien Kaffee.
    Ein verlegenes Schweigen entstand, während dem beide von der anderen die erste Boshaftigkeit erwarteten. Doch keine eröffnete den Reigen. R.J. drängte es, diese Frau mit den Tatsachen zu konfrontieren, ihr zum Beispiel zu sagen, daß in Brasilien jährlich ebenso viele Abtreibungen illegal vorgenommen werden wie legal in den Vereinigten Staaten, daß aber in Nordamerika jedes Jahr nur zehntausend Frauen wegen Komplikationen nach einer Abtreibung ins Krankenhaus müssen, während es in Brasilien vierhunderttausend sind.
    R.J. wußte aber auch, daß die Frau ihr gegenüber ebenfalls unbedingt ihre Argumente präsentieren wollte, zum Beispiel R.J. ins Gesicht schleudern, daß jeder Gewebeklumpen, den sie absaugte, eine Seele enthielt, die danach schrie, geboren zu

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