Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Daheim zog sie schon in der Küche die Bluse aus. Die Ärmel waren heruntergerutscht, und die Brust war ebenfalls verschmiert.
Sie erkannte Blut, Schleim, Seife, Dung und verschiedene Geburtsflüssigkeiten.
Angeekelt rollte sie die Bluse zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Dann blieb sie lange unter der heißen Dusche, massierte sich ihren rechten Arm und wusch sich mit Unmengen von Seife und Shampoo.
Danach putzte sie sich die Zähne und zog im Dunkeln ihren Pyjama an.
»Was ist los?« rief David.
»Nichts«, sagt sie, und er schlief wieder ein.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, gleich ins Bett zu gehen, aber nun ging sie doch noch einmal hinunter in die Küche und setzte Wasser für einen Kaffee auf. Ihr Arm war gequetscht und schmerzte, aber sie bewegte Finger und Handgelenk und daß nichts gebrochen war. Sie holte Papier und Kugelschreiber von ihrem Schreibsekretär und setzte sich an den Küchentisch, um auszuprobieren, ob sie schreiben konnte.
Sie beschloß, Samantha Porter einen Brief zu schreiben.
Liebe Sam, Du hast zu mir und Gwen doch gesagt, wir sollen Dir schreiben, wenn uns etwas einfüllt, was eine Ärztin auf dem Land tun kann, aber nicht in einem Krankenhaus in der Stadt.
Heute abend ist mir so etwas eingefallen: Man kann den Arm in eine Kuh stecken. Viele Grüße R.J.
Die Visitenkarte
Eines Morgens stellte R.J. bestürzt fest, daß der Termin näher rückte, an dem sie ihre Zulassung als praktische Ärztin in Massachusetts würde erneuern lassen müssen, und daß sie darauf nicht vorbereitet war. Die staatliche Zulassung mußte alle zwei Jahre neu beantragt werden, und zum Schutz der Bevölkerung verlangte das Gesetz, daß ein Arzt, der dies tat, den Nachweis über hundert Stunden medizinische Weiterbildung zu erbringen hatte.
Dieses System war darauf angelegt, das medizinische Wissen der Ärzte immer auf dem neuesten Stand zu halten, generell ihre Fähigkeiten zu verbessern und zu verhindern, daß sie hinter den Standard ihres Berufes zurückfielen. R.J. war mit dem Konzept der ständigen Weiterbildung durchaus einverstanden, mußte aber erkennen, daß sie in den vergangenen knapp zwei Jahren nur einundachtzig Weiterbildungspunkte gesammelt hatte, die einundachtzig Stunden entsprachen. Der Aufbau ihrer neuen Praxis und die Arbeit in der Klinik in Springfield hatten sie so beansprucht, daß sie ihre Weiterbildung vernachlässigt hatte. Die Krankenhäuser in der Umgebung boten häufig Vorlesungen oder Seminare an, für die es einige Punkte gab, aber es blieb ihr nicht mehr genug Zeit, um ihren Rückstand auf diese Art aufzuholen.
»Du mußt an einem großen Medizinerkongreß teilnehmen«, sagte Gwen. »Mir geht es genauso.«
Also begann R.J., die Kongreßankündigungen in den medizinischen Fachzeitschriften zu studieren, und dabei fiel ihr ein dreitägiges Krebs-Symposium für Allgemeinärzte auf, das im New Yorker »Plaza Hotel« stattfinden sollte. Die Veranstaltung wurde von der Amerikanischen Krebsgesellschaftund der Amerikanischen Internistenvereinigung gesponsert und war achtundzwanzig Weiterbildungspunkte wert. Peter Gerome und Estie waren bereit, während R.J.s Abwesenheit in ihrem Haus zu wohnen, damit Peter ihre Vertretung übernehmen konnte. Er hatte bereits eine Krankenhauszulassung beantragt, doch die war noch nicht erteilt, und R.J. bat deshalb einen Internisten in Greenfield, diejenigen ihrer Patienten, bei denen stationäre Behandlung nötig war, ins dortige Krankenhaus einzuweisen.
David schwitzte über dem vorletzten Kapitel seines Buches, und sie kamen überein, daß er die Arbeit nicht unterbrechen sollte. Also fuhr sie im fahlgelben Sonnenschein des frühen Novembers allein nach New York.
Sie stellte fest, daß sie, obwohl sie bei ihrem Wegzug aus Boston froh gewesen war, die Hektik der Großstadt hinter sich zu lassen, sich jetzt wieder auf diese freute. Nach der Einsamkeit und der Stille auf dem Land glich New York einem kolossalen menschlichen Ameisenhaufen, und die Betriebsamkeit all dieser Menschen wirkte auf sie sehr stimulierend. Es war kein Vergnügen, durch Manhattan zu fahren, und sie war froh, als sie dem Hotelportier ihr Auto übergeben konnte, dennoch freute es sie, daß sie hier war.
Ihr Zimmer im neunten Stock war klein, aber komfortabel. Sie machte ein kurzes Nickerchen und hatte dann gerade noch Zeit, zu duschen und sich anzuziehen. Die Kongreßeröffnung war mit einer Cocktailparty verbunden, und sie holte sich ein Bier und stillte ihren
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