Medicus 03 - Die Erben des Medicus
biegen Sie links ein. Das Grab, das Sie suchen, befindet sich in der Mitte der zweiten Reihe. Falls Sie sich verirren, kommen Sie zurück, dann bringe ich Sie hin... Ja», sagte er, nachdem ein Blick auf dem Monitor ihm die Richtigkeit seiner Angaben bestätigt hatte.
»Wir haben alles im Computer«, bemerkte er stolz, »alles. Wie ich sehe, gab es da im letzten Monat eine Weihe.«
»Eine Weihe?«
»Ja, da wurde der Grabstein aufgestellt«
»Oh.« Sie dankte ihm und ging mit dem Plan in der Hand nach draußen.
Langsam schlenderte R.J. den geraden schmalen Kiesweg entlang. Hinter den Friedhofsmauern rauschten Autos vorbei, ein Motorrad knatterte, Bremsen quietschten, eine Hupe lärmte.
Sie zählte die Abteilungen.
R.J.s Mutter lag auf einem Friedhof in Cambridge, mit Rasenflächen zwischen den Grabsteinen. Die Gräber hier sind furchtbar nah beieinander, dachte sie. Es waren so viele, als wären die Verstorbenen aus einer Stadt in eine andere gezogen.
... elf... zwölf.
Sie bog nach rechts ab und ging acht Abteilungen weit. Hier müßte es sein.
In der Abteilung dahinter saßen Leute auf Stühlen neben einem Loch in der Erde. Ein Mann mit einem Käppchen beendete seine Ansprache, und die Trauergäste stellten sich an, um Erde ins Grab zu schaufeln.
R.J. ging zur zweiten Reihe in ihrer Abteilung und versuchte, sich dabei so unauffällig wie möglich zu verhalten. Jetzt zählte sie nicht mehr die Reihen, sondern las die Namen auf den Steinen. Emanuel Rubin. Lester Rogovin. Auf vielen Grabsteinen lagen zusätzlich kleine Steine, Visitenkarten , die an den Besuch eines Hinterbliebenen erinnerten. Einige Gräber waren mit Blumen oder Büschen bepflanzt. Eines war überwuchert von einer Eibe, und R.J. schob die Zweige beiseite, um den Naraen lesen zu können: Leah Schwartz. Auf Leah Schwartz' lagen keine Visitenkarten .
Sie ging am Familiengrab der Gutkinds vorbei, der vielen Gutkinds, und dann sah sie einen Doppelstein mit den hübschen emaillierten Porträtfotos einer jungen Frau und eines jungen Mannes: Dmitri Levnikov, 197O-1992, und Basya Levnikov, 1973 -1992. Ein Ehepaar? Bruder und Schwester? Starben sie gemeinsam? Bei einem Verkehrsunfall, in einem Feuer? Ist wahrscheinlich ein russischer Brauch, dachte sie, die Fotos auf dem Grabstein. Offensichtlich waren es Emigranten gewesen.
Wie traurig, dachte sie, da haben sie diesen weiten Weg zurückgelegt, haben die Schallmauer der Kulturen durchbrochen, und dann das.
Kirschner. Rosten. Eidelberg. Markus. Markus, Natalie J. 1952 - 1985. Unsere innig geliebte Gattin und Mutter.
Es war ein Doppelstein, die eine Hälfte graviert, die andere leer.
Daneben: Markus, Sarah. 1977-1994. Unsere zärtlich geliebte Tochter.
Ein einfacher Granitblock wie der für Natalie, aber noch nicht verwittert, unverkennbar neu.
Auf jedem Grabstein lag ein kleiner Visitenkarten -Stein. Es war der kleine Stein auf Sarahs Grab, den R.J. wie gebannt anstarrte: ein Stück rötlichen Tonschiefers in Form eines unregelmäßigen Herzens, mit dem deutlichen Abdruck des krebsähnlichen Kopfes und des dreilappigen Körpers eines Trilobiten, der vor vielen Millionen Jahren gelebt hatte.
R.J. redete nicht mit Natalie oder Sarah, denn sie glaubte nicht, daß sie sie hören würden. Sie erinnerte sich, vermutlich während des Studiums irgendwo gelesen zu haben, daß ein christlicher Philosoph - Thomas von Aquin? - Zweifel daran geäußert habe, ob die Toten um die Belange der Lebenden wüßten. Aber hatte er das sicher wissen können? Was wußte überhaupt jemand, ob Thomas von Aquin, David oder irgendein anderer vermessener Mensch? R.J. fiel ein, daß Sarah sie geliebt hatte.
Vielleicht war Magie in diesem Herzstein, ein Magnetismus, der sie hierhergezogen hatte und sie erkennen ließ, was sie tun mußte.
R.J. hob zwei Kiesel vom Boden auf und legte einen auf Natalies Grabstein, den anderen auf den von Sarah.
Das Begräbnis nebenan war zu Ende, die Trauergäste zerstreuten sich. Viele kamen in ihre Richtung, gingen an ihr vorbei. Sie wandten den Blick ab von dem traurigen, aber alltäglichen Anblick einer gebrochenen Frau an einem Grab. Sie konnten nicht wissen, daß R.J. ebensosehr um die Lebenden weinte wie um die Toten.
Als Ärztin hatte sie es schon immer schwierig gefunden, mit Betroffenen über das nahe Ende zu reden, und am nächsten Morgen am Küchentisch mußte sie sich sehr überwinden, mit David über das Ende ihrer Beziehung zu sprechen. Aber sie schaffte es, ihm zu sagen,
Weitere Kostenlose Bücher