Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Tages weckte sie, und sie kuschelte sich in ihre warme Doppelsteppdecke und geriet ins Grübeln, bis sie sich schließlich zwang, aufzustehen, den Thermostat hochzudrehen und sich unter die Dusche zu stellen.
Ihre Periode war schon einige Wochen überfällig, fiel ihr beim Abtrocknen ein, und mißmutig dachte sie über eine mögliche Diagnose nach, die sich ihr aufdrängte: präklimakterische Amenorrhö. Sie war gezwungen, sich der Tatsache zu stellen, daß jetzt oder zumindest sehr bald ihre Körperfunktionen sich verlangsamen und verändern würden, daß nicht mehr benötigte Organe allmählich ihre Tätigkeit einstellten und so das dauerhafte Ausbleiben der Menstruation ankündigten. Doch schnell verdrängte sie den Gedanken wieder. Es war Donnerstag, ihr freier Tag. Kaum war die Sonne ganz aufgegangen, erwärmte sie schon das Haus, und R.J. drehte den Thermostat herunter und zündete im Kamin ein Feuer an. Es tat wohl, jetzt wieder Holzfeuer flackern zu sehen, aber sie trockneten die Luft aus und überzogen sämtliche Oberflächen mit einer feinen Schicht grauer Asche. Und die Herzsteine, die überall herumlagen, machten das Staubwischen zu einer Plage. Irgendwann stand sie da und starrte einen herzförmigen grauen Flußstein an. Schließlich legte sie ihren Staublappen weg und ging zum Schrank, in dem sie ihren Rucksack aufbewahrte. Sie legte den grauen Stein in den Rucksack und durchstreifte dann das Haus, um alle Herzsteine einzusammeln. Als der Rucksack fast voll war, schleppte sie ihn zur Hintertür hinaus und ließ die Steine in den großen Schubkarren poltern. Dann ging sie wieder ins Haus und holte weitere Steine. Sie behielt nur die drei Herzsteine, die Sarah ihr geschenkt hatte, und die zwei, die sie Sarah geschenkt hatte: den Kristall und den winzigen schwarzen Basalt.
Fünfmal mußte sie gehen, bis alle Steine aus dem Haus waren. Sie zog Winterkleidung an - Daunenjacke, Strickmütze, Arbeitshandschuhe -, trat vors Haus und packte den Schubkarren bei den Griffen. Der große Karren war beinahe halbvoll, und die Steine wogen schwer. Sie mußte sich ziemlich anstrengen, um den Karren acht Meter über den Rasen zu schieben, doch als sie den Waldpfad erreicht hatte, fiel das Gelände zum Fluß hin ab, und der Schubkarren rollte fast von allein. Das spärliche Sonnenlicht, das durchs Geäst fiel, sprenkelte den tiefen, satten Schatten. Es war kalt im Wald, aber die Bäume hielten den Wind ab, und der Gummireifen des Schubkarrens zischte über die festgetretenen, feuchten Fichtennadeln und holperte dann über die Bretter der »Gwendolyn T.« Am Fluß, der, vom Herbstregen angeschwollen, träge und gurgelnd dahinströmte, hielt sie an. Die letzte Rucksackladung hatte sie nicht mehr in den Schubkarren geleert, und jetzt schulterte sie den Rucksack und ging mit ihm den Pfad entlang. Das Flußufer war von Bäumen und Buschwerk gesäumt, aber zwischen den Stämmen öffneten sich Lücken, und sie blieb immer wieder stehen, nahm einen Herzstein aus dem Rucksack und warf ihn ins Wasser.
Sie war eine praktisch denkende Frau und fand sehr schnell ein System für diese Entsorgung: Die kleinen Steine landeten an flachen Stellen am Rand, die größeren kamen in tieferes Wasser, vorwiegend in die Gumpen, die sich hier und dort gebildet hatten. Als der Rucksack leer war, kehrte sie um und schob den Karren ein Stück flußaufwärts. Dann füllte sie den Rucksack wieder und warf weiter Herzsteine ins Wasser. Der schwerste Stein im Schubkarren war der große, den sie auf der Baustelle in Northampton gefunden hatte. Mit durchgedrücktem Rückgrat und mit hochgezogenen Schultern schleppte sie ihn zu dem tiefsten Gumpen knapp unterhalb eines großen, breiten Biberdamms. Zum Werfen war er zu schwer, sie mußte ihn auf dem Biberdamm bis zur Gumpenmitte tragen. Gleich am Anfang rutschte sie aus, und ihre Stiefel liefen voll Eiswasser. Aber langsam und Schritt für Schritt schaffte sie es bis zu einer Stelle, die ihr gefiel. Dort warf sie den Stein wie eine Bombe ins Wasser und sah zu, wie er auf den Grund sank und im Sand landete.
R.J. gefiel es, den Stein dort zu wissen, wo bald winterliches Eis und Schnee ihn bedecken würden. Im Frühling legten vielleicht Eintagsfliegen ihre Eier dort ab, Forellen konnten dann die Larven abweiden und sich hinter den Herzflügeln vor der Strömung schützen. Sie stellte sich vor, wie in der geheimnisvollen Stille einer Sommernacht ein Biberpärchen über dem Stein schwebte und sich im klaren,
Weitere Kostenlose Bücher