Medicus 03 - Die Erben des Medicus
mochte er nicht.
»In die Ambulanz kommen die Leute nur, wenn es unbedingt nötig ist Sie bekommen jedesmal einen anderen Arzt, es gibt also keine Kontinuität bei der Behandlung. Sie werden nur wegen der jeweils aktuellen Krankheit oder Verletzung behandelt, eine medizinische Vorsorge existiert nicht. Sidney, wir könnten wirklich etwas in Bewegung bringen, wenn wir Allgemeinmediziner ausbilden würden. Das sind die Ärzte, die gebraucht werden.«
Sein Lächeln war gezwungen. »Keins der Bostoner Krankenhäuser hat eine allgemeinmedizinische Lehrabteilung.«
»Wäre denn das kein ausgezeichneter Grund, eine aufzubauen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin müde. Ich glaube, ich habe meine Sache als medizinischer Direktor gut gemacht, und ich habe nur noch drei Jahre bis zu meiner Pensionierung. Ich habe kein lnteresse mehr daran, den Kampf zu führen, der nötig wäre, um ein solches Programm durchzusetzen. Kommen Sie mir nicht mehr mit irgendwelchen Kreuzzügen, R.J.! Wenn Sie das System verändern wollen, müssen Sie sich zuerst den entsprechenden Platz in der Hierarchie erstreiten. Dann können Sie Ihre eigenen Strategien verfolgen.«
An diesem Donnerstag wurde ihr geheimer Schleichweg zur Family Planning Clinic entdeckt. Die Polizeieinheit, die sonst die Demonstranten von der Klinik zurückdrängte, hatte sich an diesem Morgen verspätet. R.J. hatte ihr Auto in Ralph Aiellos Hof abgestellt und ging eben durch das Gartentor, da sah sie, daß Demonstranten links und rechts um die Klinik herumkamen.
Viele Leute mit Schildern in der Hand, Leute, die schrien und mit dem Finger auf sie zeigten.
Was sollte sie tun?
Das, was sie immer befürchtet hatte, stand bevor: Sie witterte Gewalt.
Sie wappnete sich, um schweigend durch die Menge hindurchzugehen, ohne daß man sah, daß sie zitterte. Passiver Widerstand. Denk an Gandhi! sagte sie sich, und doch mußte sie an all die Ärzte denken, die man angegriffen hatte, an die Klinikbediensteten, die verletzt oder gar getötet wurden. Verrückte Menschen.
Einige liefen an ihr vorbei, zwängten sich durch das Tor in Aiellos Hof.
Würdevolle Zurückhaltung. Denk an Frieden! Denk an Martin Luther King. Geh zwischen ihnen hindurch! Geh!
Sie drehte sich um und sah, daß die Menge sich um ihren roten BMW drängte und ihn fotografierte. Oh, der Lack! Sie machte kehrt und schob sich wieder durch das Tor. Jemand boxte sie in den Rücken.
»Finger weg von dem Auto, sonst brech ich dir den Arm!« schrie sie.
Der Mann mit der Kamera wandte sich um und richtete sie auf ihr Gesicht. Das Blitzlicht zuckte auf, immer und immer wieder, Lichtnägel, die ihr in die Augen stachen, Schreie, die ihr wie Dornen in die Ohren drangen, eine Art Kreuzigung.
Stimmen
Unverzüglich rief sie Nat Rourke an und berichtete ihm von dem Vorfall bei der Klinik. »Ich habe mir gedacht, Sie sollten es wissen, damit es für Sie nicht als Überraschung kommt, wenn der Staatsanwalt versuchen sollte, meine Aktivitäten gegen Tom zu verwenden.«
»Ja. Vielen herzlichen Dank, Dr. Cole«, sagte Rourke. Er hatte eine sehr höflich reservierte Art, und R.J. konnte nicht erkennen, was er wirklich dachte. An diesem Abend war Tom früh zu Hause. Sie saß am Küchentisch und erledigte Papierkram, und er kam herein und holte ein Bier aus dem Kühlschrank. »Willst du auch eins?«
»Nein, danke.«
Er setzte sich ihr gegenüber. Sie hatte das Verlangen, ihn zu berühren. Er sah übermüdet aus. Früher wäre sie hinübergegangen, um seinen Nacken zu massieren. Eine Zeitlang waren sie sehr auf Berührungen aus gewesen, und auch er hatte sie oft massiert. »Rourke hat mich angerufen«, sagte Tom, »und er hat mir erzählt, was heute in Jamaica Plain passiert ist«
»Soso.«
»Ja. Er, ähm . . . hat mich nach unserer Ehe gefragt. Und ich habe ihm offen und ehrlich geantwortet.«
Sie sah ihn an und lächelte. Was einmal war, ist eben nicht mehr. »Das ist immer das beste.«
»Ja. Rourke meint, wenn wir uns scheiden lassen wollen, sollten wir das sofort in die Wege leiten, damit deine Arbeit in der Abtreibungsklinik nicht meine Verteidigung beeinträchtigt.«
R.J. nickte. »Das klingt einleuchtend. Unsere Ehe existiert schon lange nicht mehr, Tom.«
»Ja. Ja, das stimmt, R.J.« Er lächelte sie an. »Möchtest du jetzt ein Bier?«
»Nein danke«, sagte sie und beugte sich wieder über ihre Arbeit. Tom packte ein paar Sachen ein und zog noch am selben Abend aus, und das so unbekümmert, daß sie überzeugt war,
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