Medicus 03 - Die Erben des Medicus
es gebe jemanden, bei dem er sofort einziehen würde.
Zunächst konnte sie in dem Haus an der Brattle Street keine Veränderung feststellen, weil sie es gewöhnt war, hier allein zu sein. Sie kehrte wie zuvor auch jeden Abend in ein leeres Haus zurück, aber jetzt zog dort ein neuer Frieden ein, denn es fehlten die Zeichen seiner Anwesenheit, die sie so gestört und verärgert hatten. Eine erfreuliche Erweiterung ihres persönlichen Freiraums.
Aber acht Tage nach seinem Auszug begannen plötzlich die nächtlichen Anrufe. Es waren verschiedene Stimmen, und sie riefen die ganze Nacht hindurch zu verschiedenen Stunden an. Vermutlich wechselten sich die Anrufer schichtweise ab. »Du bringst Babys um, du Schlampe!« flüsterte eine Männerstimme.
»Du zerschnippelst unsere Kinder. Du saugst menschliche Wesen ab, wie man Staub vom Teppich saugt«
Eine Frau teilte R.J. mit Bedauern in der Stimme mit, daß sie offensichtlich vom Teufel beherrscht sei. »Sie werden für alle Ewigkeit in der Hölle brennen«, sagte die Anruferin.
Es war das kehlige Raunen einer gebildeten Stimme.
R, J. ließ sich eine Geheimnummer geben. Doch als sie einige Abende später nach Hause kam, hatte jemand mit großen Nägeln an die teuer restaurierte Tür ihres altehrwürdigen georgianischen Hauses ein Plakat geschlagen:
Gesucht!
Wir brauchen Ihre Hilfe, um Dr. Roberta J. Cole zu stoppen.
Das Foto zeigte sie, wie sie wütend in die Kamera starrte, den Mund nicht gerade schmeichelhaft geöffnet. Darunter stand:
Dr. Roberta J. Cole, wohnhaft in Cambridge, spielt die Woche über die ehrbare Ärztin und Dozentin am Lemuel Grace Hospital und am Massachusetts College of Physicians and Surgeons.
Aber sie ist eine Abtreiberin. Jeden Donnerstag tötet sie von zehn bis dreizehn Uhr Babys.
Bitte helfen Sie uns, indem Sie:
1. Beten und fasten - Gott will nicht, daß auch nur eine Seele zugrunde geht. Beten Sie für Dr. Coles Errettung!
2. Schreiben Sie ihr, und rufen Sie sie an, verkünden Sie ihr die Frohbotschaft, und sagen Sie ihr, daß Sie ihr helfen wollen, ihre Tätigkeit aufzugeben!
3. Bitten Sie sie, nicht mehr abzutreiben ! >Beteiliget euch nicht an den unfruchtbaren Werken, sondern deckt sie vielmehr sogar strafend auf!< Epheser, 5,11.
Die Grundkosten für eine Abtreibung betragen 250 Dollar. Die meisten Ärzte in Dr. Coles Position erhalten die Hälfte der Kosten. Somit belief sich Dr. Coles Einkommen aus dem Töten von fast 700 Kindern im letzten Jahr auf 87.500 Dollar.
Das Plakat gab dann noch Möglichkeiten an, wie R.J. zu erreichen war, ihren Tagesablauf und die Adressen und Telefonnummern des Krankenhauses, der Medical School, der PMS-Clinic und der Abtreibungsklinik. Den Abschluß bildete folgende Zeile:
Belohnung: Wird sie gestoppt, werden Leben gerettet!
In der folgenden Woche herrschte ein ominöses Schweigen. Eines Morgens brachte The Boston Globe einen Artikel mit Zitaten von politischen Insidern, denen zufolge der Bezirksstaatsanwalt Edward W. Wilhoit die Stimmung hinsichtlich einer Kandidatur für das Amt des Vizegouverneurs auslote. Am Sonntag verlas man in allen Kirchen der Bostoner Erzdiözese einen Hirtenbrief des Kardinals, in dem jede Abtreibung als Todsünde gebrandmarkt wurde. Zwei Tage später brachten die überregionalen Medien die Meldung, in Michigan habe Dr. Jack Kevorkian wieder einmal Beihilfe zur Selbsttötung geleistet Als R.J. an diesem Abend den Fernseher für die Spätnachrichten einschaltete, hörte sie Ausschnitte aus einer Rede Wilhoits vor einer Seniorenversammlung. Er forderte, »den Antichrist in unserer Mitte, der durch Abtreibung, Selbstmord und Mord versucht, die Macht der Dreifaltigkeit an sich zu reißen, schleunigst der Gerechtigkeit zu überantworten«.
»Ich hoffe, wir können das zivilisiert hinter uns bringen, ohne Groll und Streit, indem wir einfach alles teilen, Aktiva und Passiva. Genau halbe - halbe«, sagte Tom. R.J. erklärte sich einverstanden. Sie war überzeugt, daß er bis aufs Messer gestritten hätte, wenn Geld dagewesen wäre, aber fast alles, was sie verdient hatten, hatten sie in das Haus und in die Rückzahlung seiner Studienschulden gesteckt.
Tom wurde verlegen, als er ihr gestand, daß er bei Cindy Wolper wohne, seiner Chefsekretärin: blond, temperamentvoll, Ende Zwanzig.
»Wir wollen heiraten«, sagte er und schien sehr erleichtert, daß er endlich den Sprung vom betrügerischen Ehemann zum frisch Verlobten geschafft hatte.
Armes Mädchen! dachte sie
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