Medicus 03 - Die Erben des Medicus
ist«, sagte sie sachlich. »Und ich mache meine Sache gut.«
»Sie widern mich an. Ihnen würd' ich's nicht einmal mit einem fremden Schwanz besorgen.«
Sehr freundlich.
»Na, mit Ihrem eigenen werden Sie's bestimmt nicht tun«, erwiderte sie ruhig, stand auf und verließ das Cafö. Dabei kam sie an einem Tisch mit einer mütterlichen, weißhaarigen Dame vorbei, die ihr mit Tränen in den Augen applaudierte. Es wäre für R.J. tröstender gewesen, wenn die Frau nicht betrunken gewesen wäre.
»Ich brauche überhaupt niemanden. Ich kann mein Leben auch allein leben. Allein! Ich brauche keinen Menschen, kapiert? Und ich will auch, daß du mich in Frieden läßt, klar, Freundin?« sagte sie wütend zu Gwen.
»Ist ja gut, ist ja gut«, erwiderte Gwen, seufzte und ließ sie stehen.
Ein Urteil von Kollegen
Die für April geplante Sitzung des Untersuchungsausschusses für ärztliches Fehlverhalten im Middlesex Memorial Hospital wurde wegen eines Frühlingsblizzards vertagt. Der Schneesturm überdeckte den rußigen Schnee und das alte Eis mit einer sauberen weißen Schicht, wie sie früher im Jahr willkommener gewesen wäre. Nun murrte R.J. über noch mehr Schnee. Zwei Tage später stieg die Temperatur auf zweiundzwanzig Grad, der neue Frühlingsschnee verschwand zusammen mit dem alten Winterschnee, und in den Rinnsteinen staute sich das Schmelzwasser.
Der Untersuchungsausschuß kam in der folgenden Woche zusammen. Es wurde keine lange Sitzung. Angesichts klarer Beweise und eindeutiger Zeugenaussagen, daß Elizabeth Sullivan unter schrecklichen Schmerzen litt und im Sterben lag, kam der Ausschuß zu dem einstimmigen Urteil, daß Dr. Thomas A. Kendricks sich nicht standeswidrig verhalten hatte, indem er Mrs. Sullivan so stark sedierte.
Einige Tage nach der Sitzung erzählte Phil Roswell, ein Mitglied des Ausschusses, R.J., daß es keine Debatte gegeben habe. »Mein Gott, seien wir doch mal ehrlich! Wir alle tun so etwas, um ein gnädiges Ende zu beschleunigen, wenn der Tod nahe und unausweichlich ist«, sagte Roswell. »Tom hat nicht versucht, ein Verbrechen zu vertuschen, er hat die Anforderung ordnungsgemäß und aufrichtig in der Krankenakte vermerkt. Wenn wir ihn bestraft hätten, müßten wir uns selbst und die meisten Ärzte, die wir kennen, ebenfalls bestrafen.«
Nat Rourke hatte eine diskrete Unterhaltung mit dem Bezirksstaatsanwalt gehabt und von Wilhoit erfahren, daß dieser nicht vorhatte, den Tod Elizabeth Sullivans vor ein Geschworenengericht zu bringen. Tom war überglücklich. Er wollte eine neue Seite im Buch seines Lebens aufschlagen und hatte es deshalb eilig, die Scheidung hinter sich zu bringen und eine neue Ehe einzugehen.
R.J.s Laune wurde noch schlechter, als sie die vielen Bettler sah, die überall herumlungerten. Sie war in Boston zur Welt gekommen und aufgewachsen, und sie liebte diese Stadt, aber den Anblick dieser Menschen auf der Straße konnte sie nicht ertragen. Sie sah sie überall in der Stadt, wie sie Mülltonnen und Abfallhaufen durchwühlten, ihre wenigen Habseligkeiten in entwendeten Einkaufswagen durch die Gegend schoben, in Transportkisten auf kalten Ladedocks schliefen, vor der Suppenküche in der Tremont Street um eine kostenlose Mahlzeit anstanden und die Bänke am Boston Common und an anderen öffentlichen Plätzen mit Beschlag belegten.
Für R.J. waren die Obdachlosen ein medizinisches Problem. In den siebziger Jahren hatten Psychiater für eine schrittweise Auflösung der gewaltigen steinernen Irrenhäuser gekämpft, in denen die Geisteskranken unter beschämenden Bedingungen zusammengepfercht waren. Der Gedanke dahinter war, die Patienten wieder in die Freiheit zu entlassen, damit sie harmonisch mit den Gesunden zusammenlebten, wie es in einigen europäischen Ländern bereits mit großem Erfolg praktiziert wurde. Aber in Amerika bekamen die psychiatrischen Gemeindezentren, die eingerichtet wurden, um die nun freien Geisteskranken zu betreuen, zu wenig Geld, und schließlich brach das ganze System zusammen. Für einen psychiatrischen Sozialarbeiter war es unmöglich, einen Patienten im Auge zu behalten, der die eine Nacht in einem Pappkarton schlief und die nächste meilenweit weg über einem Abluftschacht. Über die ganzen Vereinigten Staaten verteilt, bildeten Alkoholiker, Drogensüchtige, Schizophrene oder sonstwie geistig Kranke eine wahre Armee von Obdachlosen. Viele von ihnen verlegten sich aufs Betteln, einige versuchten, in U-Bahnen und Bussen mit lauten Reden
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