Medicus 03 - Die Erben des Medicus
und herzzerreißenden Geschichten Mitleid zu heischen, und wieder andere saßen an Hausmauern mit einer Tasse oder einem umgedrehten Hut vor sich und einem selbstgemalten Schild mit der Aufschrift: »Arbeite gegen Essen. Vier Kinder zu Hause...«
R.J. hatte in einer Studie gelesen, daß schätzungsweise fünfundneunzig Prozent der amerikanischen Bettler alkohol- oder drogensüchtig waren und daß einige bis zu dreihundert Dollar am Tag erbettelten, Geld, das sofort wieder für Suchtstoffe ausgegeben wurde. Mit einem sehr schlechten Gewissen dachte R.J. an jene fünf Prozent, die nicht süchtig waren, sondern nur ohne Wohnung und Arbeit. Trotzdem überwand sie sich dazu, nichts zu geben, und wurde jedesmal wütend, wenn sie sah, daß jemand ein Zehncentstück oder einen Vierteldollar in eine Tasse warf, anstatt politisch dafür zu kämpfen, daß die Obdachlosen von der Straße geholt wurden und eine angemessene Betreuung erhielten.
Aber es waren nicht nur die Obdachlosen - sämtliche Aspekte ihres Lebens in der Stadt gingen ihr auf die Nerven: das Ende ihrer Ehe, die zunehmende Entmenschlichung ihres Berufs, der tägliche, mühsame Papierkram und nicht zuletzt ihre Unlust, weiter in einer Institution zu arbeiten, in der Allen Greenstein sie übertrumpft hatte.
All das ergab einen bitteren Cocktail. Langsam dämmerte ihr, daß es Zeit war für einschneidende Veränderungen in ihrem Leben, Zeit, um Boston zu verlassen.
Die einzigen medizinischen Fakultäten mit Projekten, die jemandem wie ihr mit ihren gemischten Interessen gepaßt hätten, waren in Baltimore und Philadelphia. Also schrieb sie Roger Carleton von der John Hopkins University und Irving Simpson von der Penn University und fragte sie, ob sie Interesse an ihren Diensten hätten.
Schon seit langem hatte sie für das Frühjahr eine Woche Urlaub eingeplant - damals hatte sie noch von St Thomas geträumt. Statt dessen verließ sie an einem warmen Freitagnachmittag zeitig das Krankenhaus und fuhr heim, um ein paar Sachen einzupacken, die sie auf dem Land tragen konnte. Sie mußte das Farmhaus in den Berkshires loswerden. Sie hatte das Anwesen schon verlassen und stieg eben ins Auto ein, als sie sich plötzlich an Elizabeth' Asche erinnerte. Also ging sie noch einmal hinein und holte den Pappkarton von der Kommode im Gästezimmer, wo sie ihn am Tag der Einäscherung abgestellt hatte.
Sie brachte es nicht übers Herz, die Asche zu ihrem Gepäck in den Kofferraum zu packen. Deshalb stellte sie die kleine Schachtel auf den Beifahrersitz und legte ihren zusammengefalteten Regenmantel davor, damit sie nicht herunterrutschte, wenn sie einmal scharf bremsen mußte.
Dann fuhr sie zur Massachusetts Turnpike und steuerte ihren roten BMW Richtung Westen.
Woodfield
Schon bevor das georgianische Haus an der Brattie Street ganz renoviert und nach ihrem Geschmack eingerichtet war, hatte R.J.s Ehe mit Tom sich aufzulösen begonnen. Als sie dann dieses bezaubernde Anwesen in den Berkshires auf einem zur Gemeinde Woodfield gehörenden Hügel im westlichen Massachusetts nahe der Grenze zu Vermont entdeckten, kauften sie es, weil sie glaubten, in einem solchen Ferienhaus ihre Zweisamkeit wiederbeleben zu können. Das kleine hellbeige Holzhaus war an die fünfundachtzig Jahre alt und trotzte standhaft und robust der Zeit, während die alte Tabakscheune daneben, wie ihre Beziehung, schon ziemlich wackelig wirkte. Zum Anwesen gehörten knapp drei Hektar Weideland sowie etwa sechzehn Hektar dichter, alter New-England-Wald, und der Catamount, einer von Woodfields drei kleinen Gebirgsflüssen, schlängelte sich durch Wald und Wiese. Tom hatte einen Bauunternehmer beauftragt, an einer feuchten Stelle in der Wiese einen Teich anzulegen, und der Bulldozer hatte dabei die zierlichen knochigen Überreste eines Neugeborenen freigelegt. Das Bindegewebe war schon längst verschwunden. Was übrig geblieben war, hätte man leicht für Hühnerknochen halten können, wäre da nicht der unverkennbar menschliche Schädel gewesen, der wie ein zarter, verknöcherter Pilz in drei Teilen bei dem Skelett lag. Es gab keine Anzeichen eines Grabes, und der Boden war zu morastig, um je als Friedhof gedient zu haben. Der Fund hatte damals im Ort für einige Aufregung gesorgt, denn niemand wußte, wie der Fötus dort in die Erde gekommen war.
Manche vermuteten, das Kind sei indianischer Herkunft gewesen. Nach der Aussage des Bezirksleichenbeschauers waren die kleinen Knochen alt; keine Äonen, aber mit
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