Medicus 03 - Die Erben des Medicus
der Ansicht, daß eine Gemeinde einen Rabbi verdient, der sich zumindest in dieser Hinsicht sicher ist.«
»Und was denkst du jetzt? Hast du seitdem Gewißheit erlangt?«
Abraham Lincoln sah sie lange an. Wie konnten blaue Augen so traurig werden, einen solchen unvermittelten Schmerz ausstrahlen? Er schüttelte langsam den Kopf. »Die Geschworenen beraten noch.«
Er trug sein Herz nicht auf der Zunge. Erst nach Wochen und häufigen Begegnungen erfuhr sie Einzelheiten. Nach Abschluß des Seminars war er direkt zur Armee gegangen: neunzig Tage Offizierslehrgang und dann sofort nach Vietnam als Lieutenant der Militärseelsorge. Es war ein relativ gemütlicher Dienst, sicher hinter der Front in einem großen Krankenhaus in Saigon. Tagsüber hatte er die Verstümmelten und Sterbenden betreut und abends Briefe an ihre Familien geschrieben, und er hatte ihre Angst und ihre Wut in sich aufgenommen, lange bevor er selbst verwundet wurde.
Eines Tages war er mit zwei katholischen Geistlichen, Major Joseph Fallon und Lieutenant Bernard Towers, in einem Mannschaftswagen unterwegs. Auf der Straße gerieten sie in einen Raketenangriff. Das Fahrzeug wurde direkt von vorne getroffen.
Im hinteren Teil, wo sie saßen, war die Streuung der Detonation nur schmal, die Wirkung selektiv. Bernie Towers, der auf der linken Seite saß, wurde getötet. Joe Fallon auf dem Mittelplatz wurde das rechte Bein unterhalb des Knies abgerissen. David trug eine ernste Verwundung am linken Bein davon, auch der Knochen war in Mitleidenschaft gezogen. Zur Wiederherstellung waren drei Operationen nötig, die Heilung dauerte sehr lange. Jetzt war sein linkes Bein ein wenig kürzer als das rechte, aber er hinkte nur unwesentlich, R.J. hatte es nicht einmal bemerkt. Nach der Entlassung aus der Armee kehrte er nach New York zurück und hielt als Bewerber um eine Rabbistelle eine Gastpredigt in Bay Path, Long Island, im Temple Beth Shalom, dem Haus des Friedens. Er sprach über die Bewahrung des Friedens in einer komplexen Welt. Mitten in der Predigt hob er den Kopf und bemerkte eine große Tafel, auf der der erste von Maimonides' »dreizehn Glaubensgrundsätzen« prangte: »Ich glaube in vollkommenem Glauben, daß der Schöpfer, gelobt sei sein Name, Urheber und Lenker ist von allem, was erschaffen wurde, und daß er allein alles Bestehende gemacht hat, macht und machen wird.«
Starr vor Entsetzen erkannte er, daß er diesem Satz nicht aus voller Überzeugung zustimmen konnte, und nur mit Mühe konnte er sich bis zum Ende seiner Predigt durchkämpfen. Danach war er als Immobilien-Trainee zu »Lever Brothers« gegangen, ein agnostischer Rabbi mit zu vielen Zweifeln, um irgend jemandes Seelsorger zu sein.
»Darfst du noch immer Ehen stiften?«
Er hatte ein attraktives, leicht schiefes Lächeln. »Ich glaube schon. Einmal Rabbi...«
»Das wäre doch eine tolle Kombination von Schildern: I'm-In-Love-With-You Honey und direkt darunter Marryin' Markus , Markus der Heiratsschmied.«
Wenn die Katze zusieht
J. R. hatte sich nicht sofort in David Markus verliebt. Es hatte angefangen als kleines Samenkörnchen, mit ihrer Bewunderung seines Gesichts und seiner starken, langen Finger, ihrer Reaktion auf das Timbre seiner Stimme, der Sanftheit seiner Augen. Aber der Samen war aufgegangen, das Gefühl war gewachsen, was sie überraschte und zugleich ängstigte. Sie waren einander nicht in die Arme gefallen - es war, als würden sie mit ihrer Geduld, mit ihrer reifen Vorsicht einander etwas mitteilen.
Aber an einem regnerischen Samstagnachmittag allein in seinem Haus (Sarah war mit Freunden in Northampton im Kino) küßten sie sich mit einer Vertrautheit, die ebenfalls zwischen ihnen gewachsen war.
Er beklagte sich, daß er bei der Arbeit an seinem Roman Schwierigkeiten habe, einen Frauenkörper zu beschreiben. »Maler und Fotografen benutzen einfach Modelle, eine sehr sinnvolle Lösung.«
Sehr sinnvoll, da gab sie ihm recht.
»Wirst du für mich posieren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Du wirst aus dem Gedächtnis schreiben müssen.« Sie waren bereits mit ihren Knöpfen beschäftigt.
»Du bist eine Jungfrau«, sagte er.
Sie erinnerte ihn nicht daran, daß sie eine geschiedene Frau war und zweiundvierzig Jahre alt.
»Und ich war noch nie mit einer Frau beisammen. Wir sind beide brandneu, unbeschriebene Seiten.«
Auf einmal waren sie es auch. Sie erkundeten einander ausführlich. R.J. fiel das Atmen schwer. Er war langsam und zärtlich, beherrscht und
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