Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Engel des Todes, vorübergehend freigelassen. Die Seelen sitzen dann den ganzen Sabbat über in einem frischen Bach, um sich zu kühlen, so wie wir es jetzt tun. Das ist der Grund, warum früher die strenggläubigen Juden den ganzen Sabbat über kein Wasser getrunken haben. Sie wollten den Spiegel des wohltuenden Wassers nicht senken, in dem die aus der Hölle beurlaubten Seelen saßen.« Die Legende faszinierte sie, aber David stellte sie vor ein Rätsel. »Ich verstehe dich nicht. Machst du dich über Frömmigkeit lustig, oder ist Frömmigkeit ein Teil des realen David Markus? Wie kommst du überhaupt dazu, von Engeln zu reden, wenn du nicht einmal an Gott glaubst.«
Er schien leicht schockiert zu sein. »Wer sagt das? Es ist nur... Ich bin mir nicht sicher, ob Gott existiert, und falls er existiert, wer er - oder sie oder es ist.« Er lachte. »Ich glaube an ein ganzes Regiment höherer Mächte. Engel. Dschinns. Küchenfeen. Ich glaube an geheiligte Seelen, die Gebetsräder bedienen, an Kobolde und Elfen.« Er hob die Hand. »Horch!«
Was sie hörte, war das Murmeln des Wassers, fröhliches Vogelgezwitscher, der Wind in den unzähligen Blättern und das gedämpfte Brummen eines Lastwagens auf der weit entfernten Straße.
»Immer wenn ich in den Wald komme, spüre ich die Geister.«
»Ich meine es ernst, David.«
»Ich auch.«
Sie merkte, daß er zu spontaner Euphorie fähig war, fähig zu einer Art Rausch ohne Alkohol. Wirklich ohne Alkohol? War er inzwischen gegen den Alkohol gefeit?
Wie geheilt war er von dieser Schwäche, die inmitten all seiner Stärken lauerte? Die launische Brise raschelte weiter im Blätterdach über ihnen, und seine Waldgeister piesackten sie, zwickten sie am empfindlichsten Teil ihrer Psyche, flüsterten ihr ins Ohr, daß sie diesen Mann, mit dem sie sich immer mehr einließ, doch eigentlich gar nicht kannte.
R.J. hatte eine Sozialarbeiterin des Bezirks angerufen und gemeldet, daß Eva Goodhue und Helen Phillips Hilfe benötigten. Aber die Mühlen der Behörden mahlen langsam, und bevor dieser Anruf Wirkung zeigte, kam eines Nachmittags ein Junge in R.J.s Praxis gelaufen und berichtete, in der Wohnung über dem Eisenwarenladen werde ein Arzt gebraucht. Diesmal ging die Tür zu Eva Goodhues Wohnung auf, und mit voller Wucht schlug R.J. ein Gestank entgegen, der so eklig war, daß sie sich beinahe übergeben mußte. Überall am Boden waren Katzen, die ihr um die Beine strichen, während sie versuchte, ihren Exkrementen auszuweichen. Aus einem Plastikeimer quoll der Müll, im Spülbecken stapelte sich Geschirr mit faulenden Speiseresten. R.J. hatte angenommen, man habe sie gerufen, weil Miss Goodhue Probleme habe, aber die zweiundneunzigjährige Frau empfing sie angekleidet und munter.
»Es ist Helen, ihr geht's sehr schlecht.«
Helen Phillips lag im Bett. Ihr Herz klang nicht besorgniserregend, als R.J. sie mit dem Stethoskop abhörte. Sie hatte allerdings dringend ein Bad nötig, und an Gesäß und Rücken zeigten sich wundgelegene Stellen. Sie litt an Verstopfung, stieß auf, ließ Winde abgehen und reagierte nicht auf R.J.s Fragen. Eva Goodhue antwortete an ihrer Stelle. »Warum liegen Sie im Bett, Helen?«
»Das gefällt ihr, es ist gemütlich. Es macht ihr Spaß, im Bett zu liegen und fernzusehen.« Nach dem Zustand der Bettwäsche zu urteilen, nahm Helen auch ihre Mahlzeiten im Bett ein. R.J. wollte ihr schon eine andere und strengere Lebensweise verordnen frühmorgens aufstehen, regelmäßige Bäder, die Mahlzeiten am Tisch einnehmen - und gegen die Verstopfung ein Medikament verschreiben, als sie aber Helens Hände in die ihren nahm, war sie bestürzt. Es war schon einige Zeit her, seit sie zum letztenmal diese merkwürdige und schreckliche Erkenntnis gespürt hatte, dieses Wissen, für das es keine Erklärung gab. Sie griff zum Telefon, wählte die Nummer des Notdienstes der Gemeinde und wartete ungeduldig auf Antwort.
»Joe, Roberta Cole hier. Ich habe hier einen Notfall und brauche schleunigst einen Krankenwagen. Bei Eva Goodhue, direkt an der Main Street, über dem Eisenwarenladen.«
In weniger als vier Minuten waren sie da, eine beachtliche Leistung. Dennoch hörte auf halbem Weg zum Krankenhaus Helen Phillips' Herz auf zu schlagen. Trotz verzweifelter Wiederbelebungsversuche der Rettungssanitäter war sie bei der Einlieferung tot. Seit einigen Jahren hatte R.J. nicht mehr die Botschaft des bevorstehenden Todes erhalten. Jetzt gestand sie sich zum erstenmal selber
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