Medicus 03 - Die Erben des Medicus
höchstens eine Geschmacksverirrung. Eine Teenager-Dummheit.«
»Eine Dummheit? Also hör mal!«
»David! Hast du denn keine schmutzigen Lieder gesungen, als du in ihrem Alter warst?«
»Doch. Aber ich habe sie mit meinen Freunden gesungen. Mit einem anständigen Mädchen habe ich sie nie gesungen, das kann ich dir versichern.«
»Schade«, sagte R.J., stand auf und ging die Treppe hinunter zu seinem Auto.
Tags darauf rief er sie an, um sie zum Abendessen einzuladen, aber sie war zu beschäftigt; es war der Beginn eines fünf-tägigen Arbeitsmarathons, während dem sie auch nachts nicht zur Ruhe kommen würde. Ihr Vater hatte recht gehabt, sie wurde zu oft aus dem Schlaf gerissen. Das Problem war, daß das im Notfall mit einem Krankenwagen in einer halben Stunde zu erreichende Krankenhaus in Greenfield, in das sie ihre Patienten einwies, keine Lehrklinik war. In den seltenen Fällen, in denen sie in Boston aus dem Schlaf geholt worden war, hatte sie immer bereits die Aufnahmediagnose eines Bereitschaftsarztes vorliegen gehabt, so daß sie nur dem Assistenzarzt zu sagen brauchte, was er mit dem Patienten tun solle, und wieder zu Bett gehen konnte. In Greenfield dagegen gab es keine Bereitschaftsärzte. Wenn sie einen Anruf erhielt, dann immer von einer Krankenschwester und häufig mitten in der Nacht. Das Pflegepersonal war sehr gut, aber bald kannte R.J. den Mohawk Trail tagsüber, nachts oder in der frühen Morgendämmerung so genau wie den Inhalt ihrer Tasche.
Sie beneidete die Ärzte in den europäischen Ländern, wo die Patienten mit vollständigen Krankenunterlagen in die Kliniken eingewiesen wurden und wo ein Stab von Krankenhausärzten die volle Verantwortung für deren Behandlung übernahm. Aber sie praktizierte in Woodfield und nicht in Europa, und deshalb fuhr sie häufig ins Krankenhaus.
Sie fürchtete sich schon vor den Fahrten im Winter, wenn der Mohawk Trail rutschig und vereist war, aber bei den schlimmsten dieser ermüdenden Touren während dieser Woche erinnerte sie sich immer wieder daran, daß sie ja unbedingt auf dem Land hatte praktizieren wollen.
Erst am Wochenende fand sie Zeit, Davids Essenseinladung anzunehmen, doch als sie bei ihm ankam, war er nicht zu Hause. »Er mußte mit Kunden zum Potter's Hill, um ihnen das Haus der Weilands zu zeigen. Ein Paar aus New Jersey«, sagte Sarah. Sie trug ein T-Shirt und Shorts, die ihre langen, braungebrannten Beine noch länger wirken ließen. »Heute koche ich. Kalbfleischeintopf. Willst du Limonade?«
»Gern.«
Sarah goß ihr ein Glas ein. »Du kannst es draußen auf der Veranda trinken oder mir hier in der Küche Gesellschaft leisten.«
»Ich komm natürlich in die Küche.« R.J. setzte sich an den Tisch und trank, während Sarah Kalbfleischstücke aus dem Kühlschrank nahm, sie unter dem Wasserhahn wusch, mit Küchenkrepp trockentupfte und dann mit Mehl und Gewürzen in eine Plastiktüte steckte. Nachdem sie durch Schütteln der Tüte das Fleisch paniert hatte, erhitzte sie ein wenig Ö1 in einer Pfanne und briet das Fleisch an. »Und jetzt eine halbe Stunde bei zweihundert Grad in den Ofen.«
»Du siehst aus und hörst dich an wie eine hervorragende Köchin.«
Das Mädchen zuckte die Achseln und lächelte. »Na ja. Die Tochter meines Vaters eben.«
»Ja. Er ist ein großartiger Koch, nicht?« R.J. hielt inne. »Ist er immer noch böse auf dich?«
»Nein. Dad wird zwar schnell wütend, aber er beruhigt sich auch schnell wieder.« Sie nahm einen Spankorb von dem Haken über der Anrichte. »So, während das Fleisch bräunt, müssen wir in den Garten und das Gemüse für den Eintopf holen.«
Im Garten knieten sie sich beiderseits der Reihe Buschbohnen hin und pflückten gemeinsam.
»Mein Vater ist sehr komisch, was mich betrifft. Am liebsten würde er mich in Cellophan einwickeln und erst wieder auspacken, wenn ich verheiratet bin.«
R.J. lächelte. »Mein Vater war genauso. Ich glaube, die meisten Eltern würden das gern tun. Sie wollen ihre Kinder unbedlngt vor Leid bewahren.«
»Aber das können sie nicht«
»Das stimmt, Sarah. Das können sie nicht«
»Nun haben wir genug Bohnen. Ich hole noch eine Pastinake. Ziehst du bitte ungefähr zehn Karotten heraus?«
Die Erde im Karottenbeet war oft geharkt worden, und R, J. brauchte sich nicht anzustrengen, leuchtend orangefarbene, kurze, keilförmige Rüben zu ernten. »Wie lange gehst du denn schon mit Bobby?«
»Ungefähr ein Jahr. Mein Vater hätte es zwar gerne, wenn ich mir
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