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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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neue Abschnitte der Wand beschien, enthüllte sie Unmengen dieser seltsam gepunkteten Zeichnungen. Hannah fuhr mit dem Finger darüber und stellte fest, dass die Einkerbungen unendlich fein waren. Bei normaler Beleuchtung wären sie nicht zu entdecken gewesen.
    »Das ist der Grund, warum ich euch so früh hierher bestellt habe«, sagte Chris. »Die Zeichnungen sind so stark verwittert, dass ich sie erst nach zwei Tagen entdeckt habe. Sie sind nur bei extrem flachem Sonnenstand zu erkennen. Es ist genau wie mit der Taschenlampe vor drei Tagen«, fügte er hinzu.
    »Aber was ist das?«, fragte Malcolm, der in die Hocke gegangen war, um eine der Darstellungen näher zu untersuchen.
    »Sternzeichen«, erklärte Chris ohne Umschweife. »Du hockst da gerade vor Orion. Eben noch zu erkennen über dem astronomischen Horizont, der hier unten dargestellt ist. Rechts davon ist Aldebaran, gefolgt vom Sternzeichen des Stiers. Etwas darüber der Widder mit den Plejaden, gefolgt vom Sternzeichen der Fische. Links von dir die Zwillinge mit Kastor und Pollux, darunter der kleine Hund, dann Krebs, Löwe und so weiter. Ich habe mir aktuelle Karten aus dem Netz runtergeladen und mit diesen hier verglichen. Es stimmt alles ganz genau. Natürlich existieren einige Abweichungen, aber die lassen sich mit der Sternendrift erklären. Die Karte ist immerhin einige tausend Jahre alt.«
    Eine atemlose Stille trat ein. Jeder schien das eben Gehörte erst einmal verdauen zu müssen. Chris’ Erläuterungen waren so ungeheuerlich, dass es keinem der Anwesenden leicht fiel, eine Bewertung abzugeben. Hannah konnte förmlich hören, wie die Gedanken ratterten. Sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Wenn es stimmte, was Chris behauptete, würden große Teile der Frühgeschichte neu geschrieben werden müssen. Allein der Gedanke, dass die Menschen vor dreizehntausend Jahren über detailliertes astronomisches Wissen verfügt haben sollen, war dermaßen absurd, dass noch niemand sich damit ernsthaft auseinander gesetzt hatte. Die ersten astronomischen Beobachtungen schrieb man den Sumerern und den Megalithvölkern zu, zwei Hochkulturen, die sich um dreitausend vor Christus entfaltet hatten. Während die Menschen in Europa die gewaltigen Observatorien von Stonehenge und Carnac aus Felsblöcken errichtet hatten, waren die Menschen im Vorderen Orient dazu übergegangen, ihre Keilschriftplatten mit Himmelskarten zu dekorieren. Davor gab es nur vereinzelte Ausschmückungen auf Grabplatten, die entfernt an Sternbilder erinnerten. Aber man konnte dabei keinesfalls von einer systematischen Himmelsbeobachtung sprechen.
    Das hier war etwas völlig anderes. Es war eine komplette und genaue Karte des gesamten Nachthimmels, entstanden in dunkler Vergangenheit.
    »Die Darstellungen sind sensationell«, löste Hannah das Schweigen. »Aber was haben sie für einen Sinn? Bei Stonehenge wissen wir, dass es sich um ein Observatorium gehandelt hat, mit dem sich die Jahreszeiten und eine Sonnenfinsternis bestimmen ließen. Die präzise Ausrichtung einzelner Blöcke auf die Sonnenauf- und Untergangspositionen an Sonnwendtagen sowie des Mondes zu den extremen Deklinationswerten lassen diesen Schluss zu. Aber das hier …«
    »Nein, das hier ist etwas völlig anderes«, erläuterte Chris. »Ich vermute, dass es eine Art Wegweiser ist. Aber, wie ich zugeben muss, ein ziemlich komplizierter. Die Skulptur markiert durch die Richtung, die ihr Schatten zu einem bestimmten Zeitpunkt des Jahres wirft, eines der Sternbilder hier an der Wand. Wenn man dieses Sternbild zu einer bestimmten Nachtstunde anvisiert, erhält man die Richtung, in der der gesuchte Ort liegt. Misst man von zwei verschiedenen Orten, erhält man eine genaue Punktangabe. Ziemlich kompliziert, nicht wahr?« Er lächelte erwartungsvoll in die Runde. »Man kann also davon ausgehen, dass es noch mehr von diesen Säulen gegeben haben muss. Mittels einfacher Triangulation wären die Frühmenschen in der Lage gewesen, den gesuchten Ort exakt zu markieren. Da wir die anderen Säulenstandorte aber nicht kennen und auch nicht wissen, an welchem Datum und zu welcher Uhrzeit wir ablesen müssen, ist uns dieser Weg leider verschlossen. Abgesehen davon, hat sich der Stand der Sonne in den vergangenen dreizehntausend Jahren so weit verändert, dass unser Ergebnis sehr ungenau wäre. Es muss sich aber um einen Ort von großer spiritueller Bedeutung gehandelt haben, denn sonst hätte man nicht so einen Aufwand getrieben.«
    Irene warf

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