Medusa
Nörgler. Ich glaube einfach, dass er langsam zu alt wird für solche Touren.«
»Und wie ist es mit dir? Auch schon Anzeichen von Schwäche?«
Chris spielte den Entrüsteten. »Weißt du, wie alt ich bin? Bis zur Rente habe ich noch eine ganze Weile Zeit. Außerdem muss ich ordentlich Geld verdienen, ehe ich mich zur Ruhe setzen kann. Und dieser Auftrag riecht nach Geld.«
»So, es geht dir nur ums Geld. Dann bin ich ja erleichtert. Ich dachte, du hättest weiter reichende Absichten.« Hannah lächelte spitzbübisch und begann, ihr Dromedar an der Leine den Hang hinaufzuführen. »Wir sehen uns auf der anderen Seite.«
Chris war für einen Moment sprachlos. Weiter reichende Absichten? Hatte sie etwa bemerkt, dass er ihr hin und wieder einen verstohlenen Blick zuwarf? Sie schien ihn genauer zu beobachten, als ihm lieb war. Ihre Äußerung klang beinahe wie eine Aufforderung. Er spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen, ermahnte sich aber, ruhig zu bleiben. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt über eine Liebesaffäre Gedanken zu machen. Zumal die anderen darauf zu warten schienen, dass er sich endlich in Bewegung setzte. Er griff also nach der Leine und folgte Hannah.
Die Führung eines Dromedars war weit schwieriger, als es zunächst aussah. Sein Tier, ein etwa sieben Jahre alter Bulle, der auf den Namen Boucha hörte, schnaubte verärgert und blies weißen Schaum um sich. Offenbar war er nicht willens, über das unsichere Gelände zu gehen. Je mehr Chris zerrte, umso mehr brüllte und schnaubte das Tier. Als ein großer Speicheltropfen auf seiner Brust landete und von dort auf die Hose tropfte, wurde Chris wütend. Ungehalten über so viel Trotz riss er an der Leine. Das Dromedar scharrte wütend mit den Vorderhufen, bewegte sich aber keinen Zentimeter vorwärts.
»Na los jetzt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, brüllte Chris den Bullen an. Er ging um das Tier herum und versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die Flanke. Boucha schleuderte daraufhin seinen Kopf herum und traf Chris mit voller Wucht an der Brust.
Als die Umnachtung nachließ, fand er sich im Staub sitzend wieder. Seine Brust schmerzte, und sein Nacken fühlte sich an, als hätte man ihm jeden Wirbel einzeln geknackt. Er rappelte sich auf. Jetzt war Schluss. Er musste dem Tier eine Lektion erteilen, so viel war sicher. Als er mit eingezogenem Kopf auf Boucha losging, kam Abdu zu ihm. »Langsam, langsam. Und vor allem: keine Gewalt! Das Tier merkt sich das bis an sein Lebensende und beißt dich bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Weißt du nicht, wie man ein Dromedar führt?«
Chris schüttelte den Kopf und klopfte sich den Staub von der Jacke. »Keine Ahnung. Gibt es dafür ein Zauberwort?«
»So ähnlich. Pass auf. Du nimmst die Leine in die Hand und schnalzt zweimal mit der Zunge.«
»Das ist alles?«
»Versuch es.«
Chris sah Boucha mit strengem Blick an, griff nach der Leine und schnalzte. Das Tier hob den Kopf, grunzte, und dann, o Wunder, setzte es sich mit gemessenen Schritten in Bewegung. Als es an ihm vorüberging, glaubte Chris einen verächtlichen Blick in seinen Augen zu bemerken. Er ignorierte den Anflug von Jähzorn in sich und sorgte dafür, das sich der Abstand zwischen ihm und dem Tier nicht verringerte.
Es war alles andere als einfach, den Hang zu queren. Mehr als einmal geriet das Dromedar ins Rutschen, aber Chris war auf der Hut, und so gelang es beiden, unbeschadet auf die andere Seite zu gelangen. Hannah saß im Schatten eines Felsens und beobachtete sie. »Das hat aber gedauert. Gab es Schwierigkeiten?«
»Ja, Boucha und ich hatten ein paar Startprobleme. Aber wir haben darüber geredet, von Mann zu Mann, und jetzt sind wir dicke Freunde. Nicht wahr, Boucha?« Das Dromedar brüllte, dass es von den Felswänden widerhallte.
Kurze Zeit später hatte es auch der Rest der Gruppe geschafft. Die Tuareg-Eskorte amüsierte sich prächtig über das Ungeschick, das die Menschen aus dem Norden im Umgang mit den Dromedaren an den Tag legten. Besonders die Schwierigkeiten zwischen Chris und Boucha waren Gegenstand einer ganzen Reihe pantomimischer Einlagen, die stets mit lautem Gelächter endeten. Immerhin hatte die ganze Sache ein Gutes. Die Laune aller Expeditionsteilnehmer hatte sich deutlich verbessert.
Irene warf einen kurzen Blick auf die Karte. Dann hob sie den Kopf und spähte in den gelben Dunst.
»Chris hat Recht. Der Eingang zum Canyon liegt dort vorn. Ich kann bereits die beiden hohen Felszinnen
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