Medusa
Mal das Symbol des Medusenkopfes auf. Die Erleuchteten schienen ihn mit Hilfe des Lichtbogens aus einem riesigen Stück Fels herauszuschneiden. Dieser Kopf wurde in den weiteren Bildern zu einem immer wiederkehrenden Motiv. In seiner Umgebung fiel Wasser vom Himmel, bildeten sich Seen, entstanden Felder und Wälder. Tempel wurden errichtet, und eine Welle des Wohlstands schien das Land zu überfluten. Als sei ein Same vom Himmel gefallen, der das ganze Land zum Erblühen brachte. Doch dann veränderte sich die Szenerie.
Hannah spürte, wie eine Gänsehaut ihren Rücken emporkroch.
»Was ist denn das? Sieht aus wie Tote und Verwundete.«
»Sie streiten sich«, murmelte Gregori.
Hannah blickte fasziniert auf die Bildgeschichte, die sich immer weiter an der Wand entlangzog. Einige Figuren schienen sich gegenseitig zu bekämpfen. Zuerst wirkte es geradezu komisch, wie die kleinen Männchen umeinander herumturnten und mit ihren Speeren in der Luft herumfuchtelten, doch je länger sie die Bilder auf sich wirken ließ, desto klarer wurde ihr, dass sich etwas Schreckliches vor ihren Augen abspielte. Plötzlich hörte sie Abdus Stimme von der entgegengesetzten Seite der Höhle.
»Schnell, kommt hier herüber. Ich habe noch mehr gefunden!«
Etwas in Abdus Stimme alarmierte Hannah und veranlasste sie, sofort zu reagieren. Da war ein Klang in seinen Worten, den sie in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit noch niemals vernommen hatte. Furcht.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Einzelheiten der Darstellung erkannte, auf die er deutete. Doch was sie dann sah, trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Arme, Beine, Köpfe, zerteilte Leiber und überall Blut, Blut, Blut. Ein Massaker, nein, schlimmer als das, ein Genozid. Die vollkommene Auslöschung eines ganzen Volkes war hier beschrieben, schonungslos und in allen Einzelheiten. Obwohl es sich nur um zarte Gravuren im Fels handelte, waren die Bilder von einer ergreifenden Intensität. Die Erfahrung der Apokalypse. Mensch kämpfte gegen Mensch, Tier gegen Tier, Stamm gegen Stamm, so lange, bis nur noch die vier Erleuchteten übrig waren, die sich in gebeugter Haltung in die Tiefen der Berge flüchteten, die Medusa auf ihren Schultern tragend. Und dort, wo kein Licht war und wohin kein Mensch ihnen folgen konnte, erbauten sie ihrem Heiligtum einen Tempel. Einen Tempel auf einer steinernen Insel inmitten eines dunklen Sees.
Hannah spürte, wie sie sich innerlich verkrampfte, als sie den Ort wiedererkannte. »Großer Gott, was haben wir da nur gefunden?«
20
Chris Carter war am Ende seiner Kräfte, als er gemeinsam mit Albert den letzten Abschnitt des Aufstiegs erreichte. Sein Bewacher hatte ihn gnadenlos angetrieben und keine Rücksicht auf ihn genommen.
Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um die Katastrophe, die er angerichtet hatte. Warum nur hatte er diesen Stein berühren müssen? Warum nur hatte er seinen Mund nicht halten können? Was für eine Freude musste es für seinen geheimen Gegenspieler gewesen sein, zuzusehen, wie er sich vor den Augen aller zum Narren gemacht hatte. Kaum auszudenken, was geschah, wenn er mit leeren Händen zu Stromberg zurückkehrte. Dann war er erledigt, ein für alle Mal. Stromberg würde ihm auf der Stelle den Stuhl vor die Tür setzen, und wenn erst publik würde, was er im Dienste dieses raffgierigen Kunstsammlers schon für krumme Dinger gedreht hatte, bekäme er nicht einmal mehr einen Job als Wetterfrosch bei einem der unzähligen lokalen Nachrichtensender. Natürlich konnte er Stromberg damit drohen, an die Öffentlichkeit zu gehen, aber er wusste, dass ihm dessen erstklassige Anwälte jeden Tag seines Lebens zur Hölle machen würden.
Was ihm im Moment jedoch viel mehr zu schaffen machte, war die Vorstellung, nie wieder in die Nähe des Steins zu kommen. Der wertvolle Fund würde in irgendeinem Labor verschwinden, um ihn zu analysieren und anschließend in einem Museum hinter Panzerglas auszustellen. Nie wieder würde er ihn berühren und diese unbeschreibliche Energie spüren können … Er schrak auf, so überrascht war er von seinen eigenen Gedanken. Was er da eben gefühlt hatte, war eine Art von Entzug. War er süchtig nach dem Stein?
»Au, verdammt!« Ein scharfer Schmerz zuckte durch sein linkes Bein, und mit einem weiteren Schrei ließ er sich zu Boden fallen. Albert wirbelte herum. »Was ist los? Bist du völlig verrückt geworden, hier so herumzuschreien!« Er beäugte ihn misstrauisch. »Versuch bloß keine faulen
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