Meeres-Braut
mußten die drei nur noch einen Weg zum Gipfel des Bergs finden, ohne von den wilden Mänaden oder dem monströsen Python aufgefressen zu werden. Mela hoffte inständig, daß sie es auch schaffen würden.
Sie überprüfte ihre Erinnerung mit einem Blick ins Handbuch und erläuterte den anderen daraufhin das Problem. »Wir können nicht einfach hinaufklettern. Die Mänaden sind wilde Frauen, die alle Eindringlinge jagen und auffressen, und jene, die sie nicht erwischen, holt sich der entsetzliche Python. Auf dem Berg gibt es zwar Musen, aber die mischen sich nicht ein, und außerdem müssen wir ja zum Simurgh auf den Gipfel.«
»Vielleicht könnte ich ja eine Mänade zu Brei hauen«, schlug Okra vor.
»Die tauchen immer nur in wilden, schreienden Horden auf«, widersprach Mela. »Während du eine zu Brei haust, würden die anderen uns packen. Nein, wir sollten ihnen lieber gänzlich aus dem Weg gehen, wenn wir können.«
»Vielleicht gibt es ja auch einen Weg, auf dem sie nicht zu finden sind«, meinte Okra.
»Ja, vielleicht«, stimmte Ida zu. »Wir müssen ihn nur finden, dann gelangen wir ohne Schwierigkeiten nach oben. Ohne Mänaden, ohne Python.«
Mela wollte etwas einwenden, begriff aber, daß es sinnlos gewesen wäre. Sie mußten den Berg erklimmen und konnten nur hoffen, daß sie dabei seinen Gefahren aus dem Weg gingen. Was sollte sie den anderen Angst einflößen? Selbst wenn sie dazu bestimmt wären, erwischt und aufgefressen zu werden, hätte es immer noch keinen Zweck, in Furcht loszumarschieren. Okra glaubte daran, daß Hauptfiguren niemals etwas wirklich Schlimmes widerfuhr; das wäre auch alles ganz nett, wenn Mela sich nur sicher sein könnte, selbst eine Hauptfigur zu sein. Angesichts des Todes ihres früheren Ehemannes Merwin zweifelte sie freilich daran. Sie hatte also keinerlei Sicherheit, ebensowenig wie Ida. Die einzige Möglichkeit, den Gefahren aus dem Weg zu gehen, bestand darin, den Berg gar nicht erst zu erklettern, doch damit würden sie ihre Aufgabe nicht erfüllen.
Dennoch fand sie es grausam, daß Naldo Naga sie mit diesem gefährlichen Auftrag losgeschickt hatte. Er hätte doch selbst gehen müssen, statt dessen versuchte er seine Haut zu retten, indem er sie vorschickte. Vielleicht hatte er gar keine Antwort auf ihre Fragen, rechnete aber damit, daß er sie ihnen ohnehin nicht würde geben müssen, weil sie diese Mission nicht überleben würden.
Nein, das war ungerecht. Das Volk der Naga war ehrenwert, und er war ein Prinz, folglich trug er auch Verantwortung. Er würde sich also an die Abmachung halten. Trotzdem hatte er einen wahrhaft grausamen Handel mit ihnen abgeschlossen!
Okra und Ida machten sich auf die Suche nach einem guten Weg. Mela schloß sich ihnen mit weniger Begeisterung an. Sie war älter als die beiden und wußte um das Grauen, das das Leben mit sich bringen konnte, beispielsweise den Tod des eigenen Ehepartners. Doch war es besser, ihnen ihre relative Unschuld so lange wie möglich zu lassen.
»Ich habe ihn gefunden!« rief Okra. »Es ist ein unsichtbarer Weg!«
»Das ist ja wunderbar!« rief Ida.
»Wie hast du ihn denn dann finden können?« wollte Mela wissen.
»Ich habe ihn erschnüffelt. Schaut mal, dort ist er.« Okra wies mit einer Geste auf ein undurchdringliches Gestrüpp.
Mela versuchte, nicht allzu pessimistisch zu klingen, doch sie hatte ein Problem. »Das sieht mir aber nicht wie ein sonderlich guter Weg aus.«
»Das liegt nur daran, daß du ihn nicht sehen kannst. Schau mir zu.« Okra trat vor und verschwand im Dornengestrüpp.
»Warte, sonst zerkratzt du dich noch am ganzen Leib!« protestierte Mela.
»Nein, tue ich nicht«, entgegnete die Ogerin. »Das Gestrüpp ist eine Illusion. Die wirklichen Dornensträucher wachsen hier gar nicht, weil sie glauben, hier sei schon alles voll. Deshalb ist dieser Weg auch so gut – niemand benutzt ihn, weil ihn niemand erkennen kann. Die Mänaden wollten sich wahrscheinlich auch nicht zerkratzen. Vermutlich führt er bis zum Gipfel.«
Vorsichtig stach Mela mit einem Finger ins Gestrüpp. Nichts. Sie setzte einen Fuß hinein. Nichts. Es war wirklich eine Illusion – und somit natürlich auch ein nutzbarer Weg, den sie nehmen konnten, sofern er nur lang genug war.
Mittlerweile stürmte Okra nach Ogerart voran. Also riß Mela sich zusammen und folgte ihr. Ida ging als letzte, sie lächelte. Sie war sich so sicher gewesen, daß es einen Weg geben mußte, und da war er plötzlich auch schon. Mela
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