Meeres-Braut
fürchtete, daß Idas Optimismus irgendwann schrecklich scheitern würde, doch wollte sie nicht diejenige sein, die dafür Sorge trug. Die Leute waren meistens nicht mehr sonderlich nett, wenn sie erst einmal gescheitert waren.
Okra folgte ihrer Nase und entdeckte damit die Windungen und Biegungen des Weges. Jeder, der nicht über einen derart hochentwickelten Geruchssinn verfügte, hätte sich schon bald verlaufen und wäre im Dornengestrüpp geendet. Doch der unsichtbare Weg war völlig frei, ohne Hindernisse oder Unterbrechungen. Er war sorgfältig gepflegt, doch wer hatte ihn gemacht und wer benutzte ihn wohl?
Als sie ungefähr ein Drittel des Berghangs erklommen hatten, vernahmen sie einen Schrei. Da war eine der wilden Frauen! Die Mänade stand auf einem Weg, der ihren kreuzte und hatte sie entdeckt. Sie war nackt wie eine Nymphe und besaß auch die gleichen Proportionen, nur daß ihr hübsches Gesicht zu einer Grimasse des Hasses verzerrt war. Wie eine Gewitterwolke hob sich ihr Haar um den Kopf. Sie hatte nicht etwa vor Schreck oder Entsetzen geschrien, sondern um ihre Gefährtinnen zu benachrichtigen. Schon bald würde sich die ganze bunte Schar an die Verfolgung machen.
»Lauft!« rief Mela. Sie hoffte, daß die Mänaden den unsichtbaren Weg nicht entdecken würden.
Okra rannte los, und die beiden anderen folgten ihr so dicht sie konnten. Die Mänaden stürzten auf sie zu, nahmen dabei aber nicht den unsichtbaren Weg sondern rasten voll durch das Gestrüpp. Im nächsten Augenblick stießen sie ein Schmerzens- und Wutgeheul aus, als sie sich schlimme Kratzer zuzogen. So sehr sie es auch zu lieben schienen, andere zu zerkratzen, so wenig mochten sie es am eigenen Leib erfahren. Doch Mela fiel ein, daß ihr, wenn sie nur ein wenig darüber nachdachte, jede Menge andere einfallen würden, bei denen das ähnlich war. Deshalb dachte sie lieber nicht weiter darüber nach.
Es klappte! Die wilden Frauen wußten nicht von dem Weg, und es schien, daß ihr Geruchssinn nicht so ausgeprägt war wie bei der Ogerin, so daß sie ihn nicht wittern konnten. Sie hielten das Gestrüpp für den einzigen Weg und kämpften sich nun hindurch, fielen dabei immer weiter ab.
Bald hatten sie die Mänaden aus dem Auge verloren. Doch die drei stießen weiter vor, obwohl sie vor Anstrengung nach Luft schnappen mußten, um sicherzugehen, daß sie die Gefahr wirklich zurückließen.
Mela fiel ein, daß auch Schlangen einen sehr guten Geruchssinn hatten. Wenn der Python vorbeikommen sollte…
Doch ihr Glück hatte Bestand, und es erschien kein Schlangenungeheuer vor ihnen. Schließlich verlangsamten sie ihren Lauf und stiegen weiter den Berghang empor. Sie schienen ein wenig von dem Glück abbekommen zu haben, das für gewöhnlich den Hauptfiguren zukam, ganz so, als gäbe es einen Fehler im Skript.
Sie erreichten das Ende des Wegs. Nun standen sie vor einer kahlen Felsklippe. Die Klippe schien sich zu beiden Seiten endlos in die Höhe zu ziehen. Wahrscheinlich umrundete sie den ganzen Berg, so daß sie sie nicht seitlich umgehen konnten. Irgendwie mußten sie hinaufkommen.
»Vielleicht könnte Okra ja ein paar Stufen in den Fels schlagen«, schlug Ida vor.
Mela wollte einwenden, daß das doch unmöglich sei, doch da fiel ihr wieder ein, daß männliche Oger durchaus Steine zermalmen konnten. Okra war zwar alles andere als ein männlicher Oger, aber immerhin war es ihr ja auch gelungen, den Drachenatem auf dem Eisenberg zu neutralisieren. »Vielleicht kann sie das«, bestätigte sie.
Okra ballte eine Faust und schlug damit zaghaft gegen den Fels. Ein Steintrümmer platzte heraus. Sie schlug erneut zu, diesmal fester, und es löste sich ein etwas größerer Brocken. »Ich kann es!« rief sie überrascht.
»Vielleicht hast du es früher einfach nur nicht versucht«, meinte Ida.
»Vielleicht. Ich dachte immer, an Gestein würde ich mir nur die Hände weh tun. Als Oger mache ich wirklich nicht viel her.«
»Für uns reicht es«, widersprach Ida warmherzig. »Vielleicht hast du einfach nur nie gewußt, wie stark du wirklich bist.«
»Das mag schon stimmen«, pflichtete Okra ihr bei, während sie den Schaden begutachtete, den sie der Felswand bereits angetan hatte.
Dann machte sie sich ernsthaft ans Werk. Mit beiden Fäusten hämmerte sie abwechselnd auf den Felsen ein, daß die Splitter nur so flogen. Sie schaffte es!
Nach einer Weile hatte Okra eine grobe Steintreppe in die Felswand gehauen, die wie ein Relief aussah. Sie
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