Meeres-Braut
Roxanne«, sagte Jenny im Traum. Gwenny konnte die Worte zwar nicht richtig hören, sah aber, daß Jenny sprach, und wußte, was sie sagen würde.
»Was mache ich hier?« fragte Roxanne. Jetzt konnte sie unmittelbar mit Jenny sprechen, denn so war das eben in ihren Träumen. Da waren alle Grenzen zwischen den Wesen aufgelöst, und alle kamen harmonisch miteinander aus.
»Du bist in meinem Traum«, erklärte Jenny. »Das ist hübscher als die Wirklichkeit, weil hier alles vollkommen ist.«
»Für mich wird nie etwas schön sein, bevor ich nicht wieder fliegen kann«, versetzte Roxanne.
»Aber du kannst hier doch fliegen«, wandte Jenny ein.
Verblüfft versuchte Roxanne es. Sie breitete die Schwingen aus und hob ab – direkt an den tiefen blauen Himmel. Im nächsten Augenblick spielte sie schon Tauziehen mit einer vorüberziehenden Wolke. Es war wunderbar!
Doch Gwenny konnte sich das nicht alles einfach nur anschauen, schließlich hatte Jenny ihr damit die Gelegenheit gegeben, sie alle zu befreien. Also bewegte sie ihren Stab und ließ das Ei vorsichtig zurück ins Nest gleiten, dann verstaute sie ihn in ihrem Rucksack. Sie lief durch den Saal zu der Reihe von Käfigen, die an der Wand hingen. Die Käfige befanden sich hoch über ihrem Kopf, weil Roxanne, wenn sie auch nicht fliegen konnte, doch groß genug war, um hinaufgreifen zu können. Also mußte Gwenny die Wand emporklettern. Das fiel ihr nicht weiter schwer, weil die Wand hier aus rauhem Wolkenstoff bestand und sie sich gut daran festhalten konnte. Außerdem war sie immer noch ziemlich leicht, weil es noch nicht solange her war, seit Che sie leichter gemacht hatte, um sie zum Namenlosen Schloß zu bringen.
Sie kletterte hoch, warf dabei zur Sicherheit einen Blick zurück, um sich davon zu überzeugen, daß Jennys Traum noch immer wirksam war. Sie sah, wie Jenny neben der Rampe und Roxanne neben dem Nest saßen und die Traumwolke zwischen ihnen ihre herrlichen Wunder offenbarte. Der Traum-Rokh sauste durch die Luft und machte Purzelbäume, er war völlig verzückt. Jahrhundertelang war Roxanne an den Boden gefesselt gewesen, obwohl sie sich doch in einem Schloß auf einer Wolke hoch in der Luft befunden hatte, und so genoß sie ihre neuerworbene Flugfähigkeit. Sie würde es nicht allzu eilig damit haben, diesen Traum wieder zu verlassen.
Da erreichte Gwenny den Boden der Käfige. Sie verhakte ihre Finger in dem Wolkenmaschendraht und zog sich an der Vorderseite des Käfigs von Che Zentaur hoch. »Che!« flüsterte sie. »Wie geht dieses Ding auf?«
»Es ist mit Teilen eines gordischen Knotens verschlossen«, sagte er traurig.
»Eines was?«
»Eines gordischen Knotens. Das ist ein magischer Knoten, der sich nur von jenem lösen läßt, der ihn gebunden hat. Das hat der Rokh getan, so daß Roxanne die einzige ist, die ihn lösen kann.«
»Aber wie soll ich dich denn dann retten?«
»Gar nicht«, sagte er traurig. »Ebensowenig wirst du Jenny retten können, fürchte ich. Dann versuche wenigstens eine Möglichkeit zu finden, wie du dich selbst rettest.«
»Ich werde nichts dergleichen tun!« sagte sie empört. »Du bist mein Gefährte und mein zweitbester Freund. Ich muß euch beide befreien.« Sie musterte den Knoten. »Vielleicht könnte ich ihn ja zerschneiden.«
»Ich weiß nicht, ob das klug wäre.«
Gwenny blickte über die Schulter gewandt auf die sich fortsetzende Traumszene. »Jenny wird den Rokh nicht ewig ablenken können. Ich muß sofort handeln, wenn ich überhaupt etwas tun soll.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte er zögernd zu.
Gwenny hielt sich mit der linken Hand fest und kramte mit der rechten das Messer aus ihrem Rucksack. Dann legte sie die Klinge am oberen Teil des Knotens an und begann zu sägen.
Der Knoten schrie auf und blitzte. Das Licht blendete sie fast, und das Geräusch war so schrill, daß die Wände bebten.
Der Rokh wurde aus dem Traum gerissen. Roxanne blickte sich wirr um, begriff, was hier los war. Dann sprang sie Jenny Elfe an, packte das Mädchen mit ihren riesigen Klauen, bevor es hinter die Rampe kriechen konnte. Dann trug sie Jenny zu den Käfigen hinüber.
»Lauf weg!« rief Che Gwenny zu.
Gwenny ließ den Käfig fahren und fiel zu Boden. Leicht, wie sie war, landete sie einigermaßen sanft. Dann huschte sie zur Seite, um dem großen Vogel auszuweichen. Sie entdeckte einen felsigen Trakt und sprang hinter einen Gesteinsbrocken.
Roxanne hatte mittlerweile den Käfig geöffnet, Jenny zu Che
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