Meeres-Braut
Hunger, verhungerte aber nie. Eigentlich war es gar kein schlechter Dienst, dennoch würde sie froh sein, wenn er beendet war.
Gwenny war überrascht. »Du bist schon seit Jahrhunderten hier?«
Roxannes Gedanke ging die Zeitskala durch. Ja, es schienen wirklich mehrere Jahrhunderte zu sein. Sie hatte so viel und so tief geschlafen, daß es sich nicht so ohne weiteres feststellen ließ.
»Aber wer hat denn das Namenlose Schloß erbaut? Wer hat das Ei gelegt? Was soll aus ihm schlüpfen?«
Roxanne stand es nicht an, nach dem Warum zu fragen, nur zu tun und zu fliegen. Zu brüten, bis es schlüpfte. Das wollte sie auch tun, weil sie den Simurgh kein weiteres Mal verärgern mochte.
»Aber Che Zentaur wird auf Befehl des Simurghs von allen Flügelungeheuern beschützt«, wandte Gwenny ein. »Von demselben Vogel, der dich hierhergeschickt hat, um Dienst an der Gemeinschaft zu leisten. Wenn du ihn frißt, wirst du sie mächtig verärgern.«
Von alledem wußte Roxanne nichts. Sie hatte das Namenlose Schloß nie verlassen, weil sie ja nicht fliegen konnte, und hatte keinen der Eindringlinge ausgefragt, bevor sie sich über sie hermachte. Weshalb sollte sie auch dem Wort eines ertappten Diebs glauben, daß der Simurgh befohlen habe, ihn nicht aufzufressen?
Gwenny schüttelte verblüfft den Kopf. Für sich betrachtet war der Gedankengang des Rokh durchaus vernünftig. Doch wie sollte sie den Vogel davon überzeugen, daß er sich irrte?
Da hörte Gwenny plötzlich etwas. Es war ein leises Summen, vielleicht ein Gesang, dessen Worte nicht genau zu verstehen waren. Der Rokh, der seine ganze Aufmerksamkeit auf Gwenny und das gefährdete Ei gerichtet hatte, lauschte ihm nicht.
Es war Jenny Elfe – sie versuchte es mit ihrer Magie. Die funktionierte nur bei jenen, die innerhalb der Hörweite waren, sie aber nicht beachteten. So würde sie Gwenny diesmal nicht beeinflussen, weil sie ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet hielt, aber bei dem Rokh konnte es vielleicht funktionieren. Solange er seine Aufmerksamkeit nicht auf die Elfe richtete.
Gwenny sah allerdings, wie sich der Traum ausbildete, weil sie ja die Linse in ihrem Auge hatte. Es war wie eine Wolke über Jennys Kopf. Innerhalb dieser sich ausdehnenden Wolke erschien eine Szene, zunächst unscharf, dann immer deutlicher. Sie zeigte eine Wiese mit Blumen im Vordergrund und vernebelten Bergen im Hintergrund. Im Mittelgrund waren Haine und funkelnde Bäche und alle möglichen stattlichen Bäume. Es war wunderschön, wie es Jennys Szenen meistens waren.
Gwenny wünschte sich, daß sie in diesen Traum eintreten könnte, wie sie es schon so häufig getan hatte, doch das konnte sie sich im Augenblick nicht leisten. Denn dann würde ihre Konzentration auf den Zauberstab nachlassen und das Ei würde herunterfallen und zerbersten, so daß dem Rokh nichts anderes mehr übrigbleiben würde, als sämtliche Eindringlinge sofort zu vernichten. Setzte sie das Ei aber erst ab, um dann in den Traum überzuwechseln, könnte der Rokh es an sich reißen und ihnen danach den Garaus machen. Deshalb mußte sie wachsam bleiben. Immerhin konnte sie ihn von außen mitansehen. Das war eine neue Erfahrung, gleichzeitig die Wirklichkeit und den Traum wahrzunehmen.
Nun erschien Jenny in dem Traum. Sie ging zwischen den Blumen dahin, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, keine zu zertrampeln. Sie beugte sich vor, um an einer großen purpurnen Passionsblume zu riechen, sehr vorsichtig, weil Mädchen lieber nicht zu viel von so etwas abbekommen sollten. Nicht einmal jene, die in die Erwachsenenverschwörung eingeweiht worden waren.
Sammy Kater erschien in dem Traum. In der Wirklichkeit schlummerte er neben Jenny, und dasselbe tat er auch im Traum. Da schwebte sogar ein Traumwölkchen über seinem Kopf, doch waren die Einzelheiten nicht genau zu erkennen. Wahrscheinlich träumte er von sich selbst, wie er von sich selbst träumte, wie er träumte, und so weiter, jede Traumwolke kleiner als die andere, bis sie nadelspitzengroß waren und schließlich ganz verschwanden.
Roxanne Rokh erschien in dem Traum. Sie wirkte überrascht. Sie war auch überrascht; ihre eigene Gedankenwolke zeigte es, ein schräg zerschnittenes Bild. Im einen Teil war sie zu sehen, wo sie soeben noch gewesen war, nämlich im Namenlosen Schloß; der andere zeigte, wo sie jetzt war – auf einer wunderschönen Wiese mit einem Elfenmädchen. Welcher Hälfte sollte sie glauben?
»Hallo,
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