Meeresblau
Schwimmhäute und sein Gesicht – doch zu glauben, dass dies hier die Wirklichkeit war, fiel ihm schwer. Er war hier, in den Weiten des nächtlichen Pazifiks, verwandelt in etwas, das sich seinem Begreifen entzog. Das Schiff war in weiter Ferne. Und mit ihm die Frau, die er liebte. Unvermittelt klaffte Einsamkeit auf. Er war allein. Fern von den Menschen, die er liebte. Die Stimmen aus der Tiefe erinnerten ihn daran, was seine Aufgabe war, doch seine Angst, Maya und Jeanne nie wiederzusehen, war von lähmender Heftigkeit.
In der einen Hand die Weinflasche, in der anderen die Muschelkette, lag Maya auf ihrem Bett und weinte, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Sie hätte im Technikraum vor den Bildschirmen sitzen sollen, um sicherzustellen, dass niemand etwas sah, was er nicht sehen durfte. Doch sie war wie ein leeres Gefäß. Unfähig, auch nur annähernd ihre Aufgaben zu erfüllen. Schwankend holte sie eine zweite Flasche aus dem Schrank, um ihre Betäubung zu vertiefen. Draußen war es längst dunkel. Einer merkwürdigen Eingebung gehorchend fischte sie das Taschenmesser aus der Nachttischschublade, entschied, dass das Trinken nichts half und stolperte nach draußen. War es der Seegang, der den Boden so schwanken ließ? Oder war sie tatsächlich sturzbetrunken?
Mühsam arbeitete sie sich die Treppe hoch und nahm nur schwammig wahr, dass sie es praktisch auf allen vieren tat. An Deck prasselte Regen in ihr Gesicht. Es waren warme, weiche Tropfen, die es nicht einmal ansatzweise schafften, ihren Rausch zu mildern. Maya warf die Weinflasche über Bord, streckte beide Arme aus und torkelte zur Reling. An die Eisenstangen gelehnt starrte sie auf das Messer. Würde er ihr Blut spüren, wenn es sich mit dem Wasser vereinte? Würde sie so nicht Teil seiner Welt werden? Kurzerhand bohrte sie sich die Klinge in die Handfläche.
Da war keinerlei Schmerz. Einfach nichts. Sie zog das Messer wieder heraus, streckte den Arm aus und sah zu, wie ihr Lebenssaft in das Wasser tropfte. Ja, so war es gut. Ihr Sein vermischte sich mit den Wellen. Vereinte sich mit der Tiefe und erreichte ihn vielleicht, irgendwo dort draußen.
Kraftlos sackte sie in sich zusammen. Hoffnung war keine mehr übrig. Er würde sie vergessen. Und wenn sie ehrlich war, wenn sie ganz ehrlich zu sich war, dann war es gut so.
Wie lange sie so an der Reling hing, vor sich hinschluchzte und schlotterte, wusste sie nicht. Dann schreckte sie etwas auf. War da nicht ein heller Schatten im Wasser? Ein geschmeidiger Körper, der unter den Wellen spielte? Der Regen verwusch den Eindruck. Viel zu schnell. Er prasselte auf das Wasser und auf das Schiff nieder und ließ alles verschwimmen.
Nein! Da war es wieder. Etwas Helles. Ein menschlicher Körper. Oder ein menschenähnlicher.
„Ich komme.“ Maya steckte das Messer in ihre Hosentasche, zog sich das T-Shirt nebst Schuhen aus und kletterte über die Reling. Euphorisch ließ sie sich fallen. Mit einem gewaltigen Platscher tauchte sie unter, arbeitete sich strampelnd wieder an die Oberfläche und rang hustend nach Atem. Während sie sturzbetrunken auf den Wellen trieb, sah sie sich um. Sie drehte sich und suchte und fand nichts. Wo war er? Wo steckte er, zum Teufel? Auf dem sich entfernenden Schiff brach Tumult aus. Ein Alarm begann zu schrillen. Maya rief Christophers Namen, immer wieder und wieder. Zuerst verzweifelt, dann wütend. Salzwasser schwappte in ihren Mund. Sie hustete und röchelte, gab jedoch nicht auf. Er war hier irgendwo. Sie wusste es. Der Regen, der auf das Wasser fiel, klang seltsam. Wie ein alles erfüllendes Plätschern, Tröpfeln und Rauschen. Zornig schlug Maya auf die Wasserfläche ein.
„Wo bist du? Komm her. Zeig dich, verdammt. Los, komm raus, du dämlicher Fisch.“
Vor ihr, keine drei Meter entfernt, tauchte etwas Helles im Wasser auf.
„Chris? Bist du das? Chris?“
Als die Gestalt durch die Oberfläche brach und auf sie zuschwamm, wollten mehrere Dinge gleichzeitig über ihre Lippen sprudeln. Sie brachte es fertig, gleichzeitig zu keuchen, zu heulen und zu lachen, versuchte nebenbei, irgendwelche Wörter dazwischenzuschieben und krönte das Ganze mit würgendem Gespotze, weil Wasser in ihre Kehle geriet.
Er verharrte dicht vor ihr und warf dem Schiff einen Blick zu. Soeben war es dabei, in etwa hundert Meter Entfernung ein Wendemanöver zu vollführen. Als er sie wieder ansah, hoffte sie auf ein Lächeln. Doch sein Gesicht blieb reglos. Das dort vor ihr war nicht mehr der
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