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Meerestosen (German Edition)

Meerestosen (German Edition)

Titel: Meerestosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schröder
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wie viel Zeit seit meinem Abtauchen vergangen war. Ich wusste nicht, ob ich gerade starb oder noch lebte, spürte weder mein Herz noch meinen Atem, ich konnte nicht einmal sagen, ob ich die Augen geschlossen hatte oder womöglich weit geöffnet hielt.
    Es war paradox: Einerseits schien mein Körper unendlich weit von mir entfernt zu sein und andererseits ruhte ich mitten in sei nem Zentrum – an einem Ort, an dem Wünschen und Sehnen, aber auch Angst und Hoffnungslosigkeit ihre Bedeutung verloren hatten.
    Und dann vernahm ich plötzlich eine Stimme. Dunkel und trä ge und sehr alt.
    Sei mir gegrüßt, mein Kind.
    Ich lenkte mein Bewusstsein an die Stelle, an der ich meine Lider vermutete, aber ich erreichte sie nicht.
    Vergiss deine Augen. Schau mir mit deinem Herzen ins Gesicht, sagte die Stimme.
    Auch sie schien sowohl von weit her als auch mitten aus mir selbst zu kommen.
    Das … ähm … das kann ich nicht, stammelte ich. Ich glaube … ich habe vergessen, wo es ist.
    Unwahrscheinlich, bekam ich zur Antwort. Ich habe so viele Jahre auf dich gewartet, kaum anzunehmen, dass sie jemanden schicken, der nur mit den Augen sehen kann.
    Antoine de Saint Exupéry – Der kleine Prinz!, schoss es mir durch den Kopf, ein Buch, aus dem Pa mir immer vorgelesen hatte und das ich als Kind sehr mochte, weil es so märchenhaft, so traurig und gleichzeitig so tröstlich, ja fast schon fröhlich war. Wirklich verstanden hatte ich die Geschichte damals nicht. Dass es um Freundschaft, Liebe, Abschied und Tod ging, begriff ich im Grunde erst in diesem Moment.
    Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar ... Tief in meinem Inneren hörte ich die Stimme meines Vaters. Ich spürte den wei chen Stoff der grünen Baumwolldecke an meinem Hals und Pas warmen Arm in meinem Nacken. Eng aneinandergekuschelt und unendlich vertraut, saßen wir auf dem Sofa in unserem alten Wohnzimmer in der Moltkestraße. Der ganze Raum war nur mit uns und seiner Stimme angefüllt.
    Hast du damals schon gewusst, dass du mich bald verlassen würdest?, wisperte ich. Dass die Zeit, die wir miteinander haben würden, so kurz war? Hast du mir deshalb die Geschichte vom kleinen Prinzen vorgelesen? Wolltest du mich damals schon trösten und mir sagen, dass niemand wirklich fortgehen kann, auch nach seinem Tod nicht?
    Du spürst ihn in deinem Herzen, nicht wahr? , schreckte die träge alte Stimme mich auf.
    Ich brauchte einen Atemzug, um mich zu fangen, und einen weiteren, um nach meinem Herzen zu tasten. – Verdammt, ich fand es nicht!
    Sei nicht so ungeduldig mit dir, sagte die Stimme. Du bist hier an einem Ort, an dem Zeit nur eine untergeordnete Rolle spielt, an dem Gestern, Heute und Morgen zuweilen gleichzeitig sind.
    Ich lauschte dem sanften, behäbigen Ton, der sich in meinem Inneren verströmte, und mit einem Mal vernahm ich ein winziges Zittern in mir – etwas, das sich auflehnte, das eine bestimmte Richtung anstrebte.
    Das geht nicht, hörte ich mich sagen . Ich kann nicht ewig hierbleiben. Mit jedem Wort wurde meine Stimme fester und klarer. Ich merkte, wie meine Lippen sich öffneten, und spürte auch die Zun ge, die sich in meiner Mundhöhle bewegte. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.
    Die letzte Silbe verklang und ließ mich schlagartig auf die Grö ße meines Körpers zusammenschrumpfen. Die Finsternis fiel von mir ab, und mit dem nächsten Lidschlag fand ich mich in einer Höhle wieder, die in etwa die Ausmaße von Oceanes Grotte hatte. Ihre glatt gewaschenen Wände waren aus glutrotem Gestein, in das Tausende in sanften hellen Farben schillernde Muschel- und Krebsschalen eingelassen waren. Direkt vor mir, in einer Mulde aus Algen und Anemonen, lag der riesige Leib eines Delfinnixes. Die Haut seines menschlichen Oberkörpers war grau und von un zähligen Furchen durchzogen, und das wenige Haar, das sich über seinen Ohren kringelte, schlohweiß und struppig. Brauen besaß er gar nicht mehr, und seine Lippen waren so schmal und farblos, dass ich sie erst auf den zweiten Blick als Mund erkannte – sie hätten auch eine besonders tiefe Falte sein können.
    Das Einzige, was nicht gealtert zu sein schien, waren seine Au gen, die mich wachsam musterten und deren Iris in allen Farb tönen des Meeres changierten.
    Ob Gordy ihn genau so auch in seinem Traum gesehen hatte?
    Sei mir gegrüßt, mein Kind, sagte er freundlich.
    Ich räusperte mich. Das … ähm …
    … sagte ich bereits, ich weiß, erwiderte er. Die Mundfalte bog sich zu einem Lächeln und

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