Mehr als ein Sommer
anderen. Jeden Bissen spülte sie mit einem Schlückchen Chardonnay herunter. Sie bot ihm ihr Brötchen und ihren Pudding an, und er nahm beides an, da er nicht wusste, wann es die nächste Mahlzeit geben würde. Als die Tabletts wieder abgeräumt waren, bearbeitete sie ihre Hände mit einer Serviette und holte dann die blumengemusterte Tasche vom Boden. Sie stellte die Vitamindose auf ihren ausklappbaren Tisch und machte sich daran, sie mit einem weichborstigen Bürstchen abzustauben, das sie auch aus der Tasche genommen hatte. Er sah den Namen auf dem Deckel, und die Neugier nagte an Trevor. Thomas, Ehemann Nummer eins, der obdachlose Mann, den man tot auf der East Pender Street gefunden hatte. Wie war er gestorben? Überdosis? Überfall? Selbstmord? Er biss sich auf die Zunge, weil er fürchtete, eine simple Frage könne neuerliches Dauergeschwätz nach sich ziehen.
Das Licht in der Kabine wurde abgeblendet, und ein Film fing an. Trevor war froh über die Ablenkung. Er fingerte nach den Kopfhörern und schob seinen Sitz nach hinten. Eine Gebirgslandschaft erschien auf dem Bildschirm, und er fummelte an den Kontrollknöpfen herum, bis ihm die Musik in die Ohren donnerte. Die Kamera schwenkte auf das lächelnde Gesicht von Julie Andrews, schneebedeckte Gipfel im Hintergrund. Er stöhnte auf. The Sound of Music. Auf Arabisch. Mit deutschen Untertiteln. »Um Himmels Willen«, murmelte er, riss sich die Kopfhörer herunter und stopfte sie in die Sitztasche.
Nachdem er sich aus der Gepäckablage über den Sitzen eine Wolldecke und ein Kissen geholt hatte, schob er den Sitz so weit nach hinten wie möglich und kuschelte sich unter die Wolldecke, die Zipfel steckte er unter seinen Achselhöhlen fest. Innerhalb weniger Minuten lullte ihn das Brummen der Flugzeugmotoren so ein, dass er sachte und allmählich hinüberglitt in die Herrlichkeit des Unbewussten. Constance’ Stimme folgte ihm hinein in das Loch. »Thomas war ein Träumer. Ich nehme an, dass er an unerfüllten Träumen gestorben ist.«
Trevor konnte sich nicht rühren. Seine Arme und Beine waren in einem engen Durchgang eingezwängt. Schleim verstopfte seine Nase, und als er den Mund öffnete um zu schreien — seine Reaktion darauf, sich in dieser Lage zu befinden — , konnte er nur miauen wie ein junges Kätzchen.
Zwei Menschen — ein Mann und eine Frau — sahen ihn vom Ende eines Tunnels forschend an. Jung — Mitte zwanzig — , ihre Gesichter von der Arbeit verhärmter, als ihr Alter es rechtfertigte. Der Mann hatte sich nicht rasiert und einen entsprechend stoppeligen Bart, er trug eine Baseballkappe, die mit den Worten Massey-Ferguson bedruckt war. Der Schirm verdeckte einen Teil seines Gesichts, sodass es schwierig war, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch vermittelte die Art und Weise, wie seine Hände auf den Schultern der Frau ruhten, Trevor den Eindruck von Rücksichtnahme. Der Mann klopfte mit den Fingerknöcheln seiner Hand auf eine unsichtbare Wand zwischen Trevor und dem Paar. Das Klopfen ließ Trevor blinzeln, und die Frau lächelte. In jenem Augenblick wusste Trevor, dass er Perfektion gefunden hatte. Vor ihm schwebte das schönste Wesen, das seine Augen je gesehen hatten. Sein bewegungsunfähiger Körper entspannte sich unter dem Blick der Frau, und er saugte die Details ihres Erscheinungsbilds in sich auf wie Most: ihr ehrliches, ovales Gesicht, die elegante Schwingung ihres Kinns und die beiden Grübchen, die sich beim Lächeln auf jeder Seite ihres Mundes bildeten. Trevor wollte hinaufgreifen und eines der Grübchen berühren. Er wusste, dass ihre Haut sich anfühlen würde wie Seide... Wenn er nur seine Hand hätte bewegen können.
Er versuchte zu sprechen, sie zu bitten, ihn näher heranzuziehen, aber statt Worten formte sich eine Blase auf seinen Lippen und zerplatzte. Das Paar lachte wieder. Die wunderschöne Frau führte ihre Finger an ihren Mund, und die Aura von Liebe, die ihm entgegenstrahlte, war so überwältigend, dass Trevor weinen wollte.
Der Mann schlang von hinten beide Arme um die Frau und legte sein Kinn auf ihre Schultern, sodass ihre Wangen einander berührten. »Nun, May«, fragte er. »Was denkst du über unseren neuen kleinen Mann?«
»Liebe auf den ersten Blick«, erwiderte die Frau ohne zu zögern. »Liebe auf den ersten Blick.«
Constance klemmte ihre Illustrierte in die Sitztasche und beugte sich über Trevor. Der Mann wälzte sich herum und grummelte im Schlaf Dinge vor sich hin. Er hatte sich in
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