Mehr als ein Sommer
schliefen. Sie wusste nicht, ob die abgestandene Luft dafür verantwortlich war oder die Tatsache, sich über lange Zeiträume hinweg nicht bewegen zu können, ob es an der Zeitlosigkeit lag oder alles nur die Folge dessen war, dass man keinen Kontakt mehr zur Erde hatte. Sie konnte im Flugzeug nie schlafen und stellte stets sicher, dass sie ausreichend Lesestoff bei sich hatte. Trevor hatte sich mit irgendetwas herumgequält, ganz offensichtlich ein Albtraum. Sie selbst hatte sich nicht auf den Zeitungsartikel konzentrieren können, weil sie an Thomas denken musste und an ihre kurze gemeinsame Zeit.
Sie beugte sich hinüber und flüsterte: »Ich dachte gerade an Thomas, als Sie in Ihrem Traum ausriefen >Liebe auf den ersten Blick<.«
»Bitte«, murmelte Trevor und zog sich die Wolldecke nun so hoch, dass sie seine Nase bedeckte. »Ich bin erschöpft.«
»Ich denke mal, dass es eher Hormone waren als Liebe. Ich habe heute Nachmittag einen Zeitungsartikel darüber gelesen, was es auslöst, dass ein Mensch sich zu einem anderen hingezogen fühlt.«
Trevor gab keine Antwort.
»Es kann sich dabei um etwas so Simples handeln wie die Form eines Ohrs. Tommy hatte wunderschöne Ohren.« Sie legte den Kopf auf die Seite und begutachtete Trevors Gesicht. »Sie haben auch recht hübsche Ohren.«
Trevor seufzte und rutschte tiefer in seinen Sitz.
»Aber was spielt es schon für eine Rolle? Es ging nicht lange gut mit uns. Seit wann sind Sie und Angela jetzt zusammen?«
Trevor stöhnte, klappte seinen Körper auseinander, setzte sich auf und signalisierte der vorübereilenden Flugbegleiterin, sie möge zwei weitere Scotch bringen. »Nicht lange«, sagte er.
»Wo sind Sie einander begegnet?«
Er stützte sich auf die Armlehne, das Kinn in der Hand, und tat so, als habe er ihre Frage nicht gehört.
Die Drinks wurden serviert, und Trevor ließ mit einem großen Schluck die Hälfte der wohltuend brennenden Flüssigkeit seine Kehle hinablaufen.
»Thomas und ich haben einander 1925 in Winnipeg kennengelernt.«
Trevor stieß die Hitze des Alkohols zwischen den Zähnen hervor. »Bisschen jung waren Sie da, nicht wahr?«
»Neunzehn. Alt genug.« Es war eine großartige Zeit in ihrem Leben gewesen. Sie war mit der Schule fertig und hatte einen Job als Verkäuferin für Haushaltswaren gefunden, bei Eatons, in Winnipeg an der Ecke von Portage and Main. Sie hatte ihr eigenes Geld und mehr Freiheit, als sie je zuvor erlebt hatte. »Ich habe mich schick angezogen, hatte perlenbestickte Charleston-Kleider, und wir sind zum Tanzen ausgegangen.«
»Charleston-Kleider? Wie im Film?«, fragte Trevor, als habe sie ihm gerade erklärt, die Welt sei eine Scheibe.
Constance konnte sich vorstellen, dass er Schwierigkeiten hatte, sich vorzustellen, wie sie als junges Mädchen ausgesehen hatte: mit Bubikopf-Frisur in einem kurzen, sackartigen Kleid, an dem die Perlen hin und her schwangen, und mit hohen Absätzen, während sie einen Jitterbug aufs Parkett legte. Sie war damals ziemlich hübsch gewesen. »Ich sah aus wie Louise Brooks.«
»Wer zur Hölle ist Louise Brooks?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Vergessen Sie es.« Sie machte sich nicht die Mühe, Trevor zu erzählen, wie sie sich in der Nacht an ihrem Vater vorbeischleichen musste — ein Vorgang, der gleichermaßen beängstigend wie berauschend war. Sie war so sehr in Thomas verliebt gewesen, dass sie alles getan hätte, um ihn zu sehen. Als ihr Vater dahintergekommen war und verlangt hatte, dass sie die Beziehung beendete, waren sie weggelaufen und hatten sich beim Standesamt in Brandon von einem Friedensrichter trauen lassen. Sie hatte im Hinblick auf ihr Alter gelogen.
»Thomas und ich haben nach sechs Wochen heimlich geheiratet«, erzählte sie. »Ich dachte, ich sei schwanger.«
Trevor zuckte sichtlich zusammen. »Noch ein Drink?«, fragte er mit brüchiger Stimme. Er hielt sein Glas hoch. »Guter Scotch. Schmeckt er Ihnen?«
»Nicht schlecht, aber ich habe noch jede Menge.« Sie nickte ihrem eigenen Glas zu, das halb voll war.
Trevor sah aus, als sei ihm unbehaglicher zumute denn je, also beschloss sie, ihm die Einzelheiten zu ersparen. Sie war sehr naiv gewesen und keineswegs schwanger, aber in größter Sorge, man könne von einem Kuss ein Baby bekommen. Sie war froh, dass die Mädchen von heute mehr über Sex wussten.
Ihr Vater war außer sich gewesen vor Wut. Sie wollte glauben, diese Wut sei darin begründet, dass sie ihn seiner Chance beraubt hatte, sie
Weitere Kostenlose Bücher