Mehr als ein Sommer
Osiris; erweist sich das Herz als schwerer, wird es von der Göttin Ammit gefressen, und die Seele ist auf ewig zerstört.
Trevor schüttelte den düsteren Umhang der Furcht von sich, der sich beim Lesen über seine Schultern gebreitet hatte. Warum waren die Menschen so besessen vom Tod? Er hatte nie groß darüber nachgedacht. Einen Tag bist du hier, am nächsten bist du weg. Wen kümmerte, was nach dem Tod mit einer Leiche passierte? Soweit es ihn betraf, hatten die alten Ägypter den Selbstbetrug zur Perfektion getrieben, indem sie Grüften mit Gold und Juwelen vollgestopft hatten, um sie in einem anderen Leben nutzen zu können. Und sie hatten sich in Essig eingelegt und in Stoff-Fetzen eingewickelt, und alles nur, damit ein Mann mit einem Tierkopf sie in ein anderes Leben eskortieren konnte. Er reichte mit der Hand nach unten und strich mit den Fingern über die Umrisse der Gottheit auf der Tafel. Wenn der Verstorbene Glück hatte und sein Herz nicht schwerer wog als die Feder.
Er fröstelte, auf einmal war ihm kalt. Er suchte nach der Ursache für den plötzlichen Temperatursturz und sah sich um. Stand eine Tür offen, die in ein unterirdisches Grabgewölbe führte? Ein Deckenventilator? Der Zustand dieses weltberühmten Museums erstaunte ihn. Die Wände waren karg und schmucklos, auf dem Boden verliefen kreuz und quer staubige Fußspuren, als seien er und Constance seit zehn Jahren die ersten und einzigen Besucher. Auf den Regalen und Tischen häuften sich nicht gekennzeichnete Artefakte, die man schwerlich als Ausstellungsstücke bezeichnen konnte. Alles vermittelte den Eindruck, als seien sie in einen Lagerraum hineingeraten statt in ein richtiges Museum. Dass er keine bewaffneten Wachen gesehen hatte, war immerhin ein Trost.
Als sie mit ihrem Gepäck und ihren Reisedokumenten aus der Transithalle des Flughafens geflüchtet waren, hatte er vorgehabt, den Schalter von East Africa Air zu finden, um sich nach Weiterflügen nach Nairobi zu erkundigen, aber Constance hatte ihn irgendwie bezirzt und zu ein paar Stunden in Kairo überredet. Zuerst die großen Märkte, ein Labyrinth aus Gassen, in denen es lärmte und von Menschen nur so wimmelte, wo sich klapprige Verkaufsstände aneinanderreihten und es nach Gewürzen und nach toten Hühnern stank. Straßenkinder zupften an ihren Jackenärmeln und offerierten ihnen hohe, schmale Gläser mit süßem, milchigem Tee; Verkäufer boten Fladenbrot und Schafskäse feil, billige Sonnenbrillen und Flipflops aus Gummi. Während Constance fast alles kaufte, was man ihr unter die Nase hielt, trotzte er dem Flehen und Sticheln der bettelnden Massen. Er war die ganze Zeit auf der Hut und hatte die Hand fest in der Hosentasche, um seine Geldbörse zu sichern.
Im Museum war es wenigstens still. Hatte sie gesagt, dass sie seinen Schutz brauchen würde? Er erinnerte sich nicht, dass sie es wortwörtlich so ausgedrückt hatte. Er sollte eigentlich in einem Flugzeug sitzen, statt gelangweilt durch die modrigen Überreste des alten Ägyptens zu wandern.
»Kommen Sie, Trevor, und sehen Sie sich das an!« Constance gestikulierte auf der anderen Seite des Raums in seine Richtung, mit ihrem freien Arm, den anderen beanspruchten die Gatten. Er fühlte sich wie das vierte Opfer, das zur Schlachtbank geführt wurde. Hatte sie in der Tasche vielleicht außer den Jungs auch noch einen Eisenhaken?
Constance beobachtete, wie Trevor sich zwischen dem Tisch und den Schaukästen seinen Weg bahnte. Sein Gesicht hatte einen ganz besonders weinerlichen und unglücklichen Ausdruck, und sie verspürte einen Anflug von Reue, ihn dazu überredet zu haben, sie ins Museum zu begleiten. Neben Donald war er der verklemmteste Mensch, der ihr je begegnet war. Sie machte sich Gedanken über seine Kindheit, über sein Leben daheim in Calgary, über das er sich bislang nicht hatte äußern wollen. Ihr gefielen die kleinen Risse, die seine Fassade bekam, wenn er unter Druck geriet, weil sie ihr Einblick verschafften in seine Sanftmut, die sonst nicht offensichtlich war. Sie war erleichtert gewesen, dass er immer noch mit ihrer Tasche auf sie gewartet hatte, als sie mit ihren Pässen aus dem Flughafenbüro gekommen war. Am Vorabend, als er gelogen und behauptet hatte, sie sei seine Mutter, hätte sie ihn am liebsten fest an die Brust gepresst.
»Wer ist das?« Trevor zeigte mit dem Finger auf den waagerecht stehenden, beleuchteten Glaskasten, in dem auf schwarzem Samt eine überladene Gestalt lag.
»Der
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