Mehr als ein Sommer
Kindkönig. Ist er nicht wundervoll?«
Auf dem schlichten Schild am Ende des Schaukastens hieß es König Tutanchamuns Totenmaske — 1350 v. Chr. Die Maske war aus purem Gold und mit Lapislazuli und Glas besetzt.
»Nicht übel«, meinte er. »Kein Staub. Noch einer Ihrer Ehegatten?«
»Sie sind frech. Das ist König Tut, seine Totenmaske, einer der größten Schätze Ägyptens«, schimpfte sie. Sie bedauerte, dass Thomas nicht da war, um sich König Tut anzusehen. Er hatte immer davon geträumt, nach Ägypten zu reisen — ein unerfüllter Traum, wie alle anderen. Er war eines Nachmittags nach Hause gekommen, beladen mit sämtlichen Büchern über Ägypten, die er in der Bibliothek von Winnipeg hatte auftreiben können. Sie hatten den Nachmittag auf dem Fußboden ihrer Einzimmerwohnung verbracht, während er ihr ein Bild nach dem anderen zeigte von Pharaonen und Grabstätten und Göttern mit merkwürdigen Namen und besonderen Merkmalen.
»Ich glaube, das da drüben war sein Hund.« Trevor wies mit dem Daumen hinter sich.
»Hund?«
»Naja, ein Typ mit einem Hundekopf, den sie in seiner Gruft gefunden haben.«
»Anubis?« Constance’ Augen hellten sich auf. »Er war einer von Thomas ’Lieblingen. Zeigen Sie ihn mir.«
Trevor führte sie zu der Figur.
»Oh, wie hübsch«, stieß sie aus und bewunderte die glatten und anmutigen Linien der Hundegestalt. »Thomas war der Ansicht, dass Anubis eine der bedeutsamsten Figuren in der ägyptischen Kultur war. Genau wie es hier steht.« Sie las die Beschreibung. »Der letzte Führer und Schutzherr der Seele auf ihrer Reise in den Himmel. Ohne Anubis würde man auf ewig in der Unterwelt umherirren. Wie grauenhaft.«
»Vielleicht ist es besser, von Ammit gefressen zu werden. Stellen Sie sich die mal vor«, frotzelte Trevor. »Tom war also Ägypten-Experte, neben all den anderen Talenten, die er hatte?«
»Er träumte davon, Ägyptologe zu werden.«
»Vom Tod besessen war er sicher auch, richtig?«
»Oh nein, im Gegenteil. Vom Leben war er besessen. Vom ewigen Leben.« Constance beugte sich tiefer über die Gedenktafel, um die Details der Zeichnung von Anubis zu untersuchen, die ihn in der Gestalt eines Mischwesens aus Mann und Hund zeigte, mit dem schwarzen, spitzen Maul, hochstehenden Ohren und glühenden Augen. »Haben Sie jemals nachgedacht über das Leben nach dem Tod?«
Trevor seufzte. »Ich kann nicht behaupten, dass mir das sinnvoll erscheint. Ich habe noch nicht viel Überzeugendes gehört, das beweisen würde, dass da noch mehr ist als das hier.« Er wedelte vage mit dem Arm durch die Luft, lehnte sich dann gegen den staubigen Schaukasten hinter sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Constance drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich wie eine steinerne Mauer. »Was ist mit der Seele, Trevor, was ist mit der Seele?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Es spielt keine Rolle, mein lieber Junge.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Einen Ort gibt es noch, den ich sehen will, bevor wir wieder zum Flughafen fahren.« Sie wandte sich ab und marschierte den Gang hinunter zum Ausgang.
Trevor eilte ihr nach, wobei ihm sein Handgepäck stetig gegen die Lenden schlug. »Sie könnten mir wenigstens sagen, wohin wir gehen!«, rief er ihr hinterher.
Zu Trevors Erstaunen war das Taxi nicht weggefahren. Der Fahrer lag lang ausgestreckt auf den Vordersitzen, die Füße hingen aus dem offenen Fenster heraus, die Baseballkappe hatte er sich über das Gesicht gelegt, und er wachte erst auf, als sie die Autotür öffneten.
»Zur Cheopspyramide bitte«, sagte Constance.
Obwohl es ihn zusehends nervte, dass die alte Frau wie selbstverständlich davon ausging, ihn herumführen zu können wie einen Hund an der Leine, wurde Trevor hellhörig, als plötzlich von den Pyramiden die Rede war, einer Stätte, für die sogar er sich begeistern konnte. Er erinnerte sich, in der Grundschule aus Hunderten winziger Stücke Würfelzucker ein Modell einer Pyramide gebaut zu haben, und dass er nicht hatte begreifen können, wie es den Ägyptern möglich gewesen war, diese Bauwerke ohne elektrisches Werkzeug und schwere Maschinen zu errichten. Seine Pyramide war eingestürzt, und die Würfel hatten sich über den Schreibtisch ergossen wie eine Lawine aus Schnee.
Der Taxifahrer lenkte den Wagen durch das Chaos des zehnspurigen Gewimmels aus Kraftfahrzeugen, Motorrädern und Eselskarren, in dem die Verkehrsteilnehmer ignorierten, was die Ampelanlagen anzeigten,
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