Mehr als ein Sommer
Vater, Nancy und sogar Luke nahmen jede seiner Bewegungen genau in Augenschein, taxierten ihn, beurteilten ihn. Die Art, wie er die Heuballen hob, ob er ihre Witze verstand, die Tatsache, dass er Turnschuhe trug und keine Stiefel. Daten für ihre Bilanz. Er war nicht sicher, worum es bei dem Ganzen überhaupt ging. Hatte Angela nicht ganz klar gesagt, dass er ein Freund war? Ein Freund. Wie sie mit dem Gabelstapler herumhantierte, erregte ihn, er konnte nichts dagegen tun; es erregte ihn, wie sie dabei aussah in ihren Jeans und in der Bluse aus Jeansstoff, an der drei Knöpfe offen standen. Er zog sich das Hemd aus der Hose heraus, damit niemand auf seinen Schritt sehen konnte. Er wagte nicht, sich über Müdigkeit zu beklagen, und lobpreiste die Gewichte, die er zu Hause in seinem Kleiderschrank aufbewahrte, ebenso wie seine Zehn-Kilometer-Läufe. Sie wollten sehen, wie ein Stadtjunge arbeiten konnte — er würde es ihnen zeigen. Er hievte den nächsten Ballen hoch, mit aller Kraft. Er fiel auf der anderen Seite des Lasters wieder herunter und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.
»Hey, starker Mann. Vorsichtig!« Leichtfüßig sprang Angela vom Gabelstapler und hievte den Achtzigpfünder mit geübter Technik zu ihm nach oben. Er hätte nie gedacht, dass der Anblick der körperlichen Stärke einer Frau ihn dermaßen scharf machen könnte.
»Und das ist die Saskatoonbeere«, sagte Helen und servierte Trevor sein drittes Stück Kuchen mit Eiscreme, wobei sie seine Proteste einfach überhörte. Sie hatte drei Kuchen gebacken und bestand darauf, dass er von allen probierte. Trevor hatte Mühe wach zu bleiben nach dem Tag auf dem Feld. Und erst Helens Abendessen: Brathähnchen, Kartoffelpüree, Soße, grüne Bohnen, grüner Salat, Krautsalat, eingelegte Gurken, Brötchen und Kuchen. Das Rätsel, warum diese Menschen nicht dick waren, löste sich für Trevor während der Unterhaltung beim Abendessen. Pure, harte Arbeit.
»Meine Eltern sind mit einem Segelschiff von Schweden nach New York gekommen.« Helen servierte ihm diese Information zusammen mit einer Ladung Kartoffelpüree und einer Suppenkelle voller Soße. »Sie besaßen beide keinen einzigen Heller. Sie sind zu Fuß nach Minnesota gegangen und von da rauf nach Alberta bis zu dem alten Flussbett östlich von hier.«
Nach dem Essen räumte Angela die Teller ab und ließ Wasser ins Spülbecken laufen. Trevor stand auf, um zu helfen, da der Abwasch in Regina zu seinen Aufgaben gehört hatte, seit er fünf Jahre alt gewesen war.
»Bleib sitzen«, befahl Helen, als sie aus dem Wohnzimmer in die Küche kam, die Arme beladen mit Fotoalben. Axel und Bjorne stießen grunzende Laute aus, entschuldigten sich und gingen nach draußen auf die Westveranda, »um uns den Sonnenuntergang anzusehen«, wie sie behaupteten. Nancy scheuchte die Kinder nach draußen und ging dann ihrerseits.
»Wir haben Bilder, die zurückreichen bis ins Jahr 1930.« Helen legte die Alben vor Trevor auf den Tisch. Sie öffnete das erste und zeigte auf ein Schwarz-Weiß-Foto. »Meine Eltern.« Der Mann, groß und breitschultrig wie Axel, hatte eine helle Haarmähne und schaute in die Linse wie ein verschrecktes Reh, den Arm um die schmalen Schultern einer entschlossen wirkenden Frau geschlungen, die ihr Haar offen trug und mit breitem Lächeln zu ihrem Mann aufblickte. Eine ältere Ausgabe von Angela. Jetzt begriff Trevor, wem sie ihr Aussehen und ihre dunklen Augen verdankte.
Trevor blätterte langsam durch die abgegriffenen Seiten, und Helen gab zu jedem Foto einen Kommentar ab.
»Das da ist Matthew.« Sie wies auf ein Bild, das einen dünnen, schüchtern wirkenden Teenager auf einem Traktor zeigte.
»Matthew?«, hakte Trevor nach.
»Unser Mittlerer«, sagte sie. »Er unterrichtet an einer Landwirtschaftsakademie in Ontario. Kommt nicht oft nach Hause; Axel und ich haben ihn letztes Jahr aber besucht. Er hat zwei Töchter.«
Trevor schaute zu Angela hinüber, die wirkte, als sei sie in Gedanken versunken, mit einem Geschirrtuch um den Hals und Flocken von Spüllauge auf den Unterarmen. Sie hatte nie erwähnt, dass es noch einen zweiten Bruder gab, doch hatte er sie andererseits auch noch nie nach ihren Geschwistern gefragt.
Trevor hielt sich lange mit den Fotos auf, die Angela zeigten: das flachsblonde Baby im Arm ihres Vaters, der auf einer Schaukel aus Holzplanken saß, das Kleinkind, das sich Gartendreck in den Mund gestopft hatte, eine Vierjährige in einem Heuschober mit einem
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