Mehr als ein Sommer
Haarsträhne aus der Stirn. Sie sah so friedlich aus, die scharfen Züge waren vom Schlaf geglättet. Wie wenig er doch über sie wusste. Und sie über ihn. Sie hatten die Regeln und dicke Betonmauern zwischen sich aufgestellt. Gestern Abend, auf den Seiten von Helens Fotoalbum, hatte er einen Blick erhascht auf die wahre Angela, auf die, die einen Welpen mit einer Babyflasche fütterte und im Schulorchester die Posaune spielte. Er fragte sich, wie er wohl aussah, wenn er schlief.
»Hey!«, flüsterte er und rüttelte an ihrer Schulter. Sie seufzte und quälte sich, eines ihrer Augen zu öffnen. »Darfst du hier sein?«, fragte er, obwohl er viel lieber vorgeschlagen hätte, den ganzen Tag im Bett zu blieben.
Sie schloss das eine Auge wieder. »Das ist okay. Sie kommen nicht mehr nach oben wie früher.«
»Aber ist das nicht gegen die Regeln?«
»Du und deine blöden Regeln«, murmelte sie.
»Meine Regeln?«, protestierte er. »Ich dachte, das seien unsere Regeln.«
»Alles deine.« Sie drehte sich auf den Rücken, die Augen nach wie vor geschlossen.
»Und was war an dem Abend, an dem ich dich gebeten habe, über Nacht zu bleiben?«
»Goldene Regel für jeden Rechtsanwalt. Sei immer skeptisch, wenn plötzlich Veränderungen im Verhaltensmuster auftreten.« Sie schob ihren Kopf in seine Armbeuge und drückte einen Kuss auf sein Brustbein. »Wie spät ist es?«
Er blinzelte auf die Uhr auf dem Schreibtisch. »Halb sechs.«
Sie rollte sich auf ihn. »Gut, dann bleibt uns eine halbe Stunde.«
»Autsch«, war alles, was er sagte.
Ein einsames Kojotenmännchen saß neben einem Gebilde aus Stein auf der Kuppe eines flachen Hügels. Es streckte die Schnauze empor zu den verblassenden Sternen und heulte in den hellen Himmel, an dem der Morgen graute. Dann lauschte es auf eine Antwort von seiner Gefährtin und heulte noch ein zweites Mal, um das junge Männchen, dem er kurz zuvor begegnet war, zu warnen nur ja Abstand zu halten. Die weite Prärie verschluckte seinen Gesang. Der Kojote tappte den Hügel hinab in Richtung der Hütte am Rand des alten Flussbetts. Seine Schultern waren steif, sein Fell verfilzt, doch war er stark und emsig und hatte auch mit siebzehn Jahren auf dem Buckel immer noch ein Weibchen angelockt. Er blieb häufig stehen, um zu urinieren — auf einen Steinhügel, in einen struppigen Salbeibusch, an den Rand eines Pfads, an einen Zaunpfahl — , und dabei schnupperte seine wachsame Nase die ganze Zeit nach der Witterung eines Rivalen.
Mit dem Wind lief er am Rand eines Baus von Präriehunden entlang. Seine Nase zuckte, ein Ohr stand aufrecht nach vorn, das andere war gekrümmt und zerfetzt von einer alten Verletzung. Er setzte sich nieder und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen langsam die von Furchen zerklüftete Erde erfassten und mit ihrem Licht die Umrisse der schattenhaften Öffnungen umkreisten, von denen er wusste, dass sie Beute enthielten. Er kauerte sich flach auf den Boden und wartete. Zehn Minuten, fünfzehn. Ein kleiner brauner Kopf lugte aus dem Eingang zu einer der Höhlen, und im Fell am Nacken blitzte das Sonnenlicht. Ein zweiter Kopf erschien an der Außenseite der Kolonie. Der Kojote spannte seinen Körper an. Ein drittes Erdhörnchen kletterte in voller Länge aus seinem Bau, keine vier Körperlängen von ihm entfernt saß es aufrecht auf seinen Hinterläufen, schnupperte in die Luft. Der Kojote schlich auf dem Bauch vorwärts, bis er die Barthaare an der Nase des Tieres sehen konnte. Er sprang; seine Klauen gruben sich in Fell und Fleisch. Er schnappte sich den Kopf zwischen die Kiefer und biss zu. Der Knochen krachte, als er brach. Der kleine Nager bäumte sich noch einmal auf und wurde mit zwei großen Bissen verspeist.
Eines der Erdhörnchen, die Wache standen, pfiff eine Warnung, und nacheinander ließen sich die Tiere zurück in ihren Bau gleiten. Der Kojote buddelte an einem der Eingänge, allerdings mit wenig Enthusiasmus, dann urinierte er hinein in das Loch. Beschwingten Schrittes machte er sich davon, mit entspanntem Schwanz, den er faul hinter sich herschleifen ließ. In Nächten, in denen sich das Jagen als schwierig erwies, lauerte er an den Farmhäusern in der Ferne und suchte dort nach Mäusen oder Hühnern, nur roch es dort, als müsse man auf der Hut sein, und mit dem bellenden Hund konnte er es nicht mehr aufnehmen.
Die Kleinen, sechs Wochen alt, kläfften beim Spielen in dem alten Dachsbau, den das Weibchen für seine Welpen vergrößert
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