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Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern

Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern

Titel: Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Kaessmann
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alles „politically correct“ erledigen zu können, wird scheitern. Niemand von uns kann die Welt allein grundlegend verändern. Aber wir können bremsen und schauen, was wir mit unserem Leben erreichen wollen. Wo kann ich einen Beitrag leisten, der nachhaltig und relevant ist? Wir können über gegenseitige Erwartungen sprechen und sagen, was wir leisten können, wo aber auch unsere Grenzen liegen. Mir persönlich fällt es schwer, Nein zu sagen. Da ist ein Charity-Event – ich könnte dabei sein. Aber der Druck ist derzeit zu groß. Da wünscht sich eine Organisation, dass ich Schirmherrin werde – aber ich habe schon allzu viele Schirmherrschaften übernommen. Da habe ich einen Termin abgesagt, und mit Nachdruck wird mir deutlich gemacht, welche Enttäuschung das auslöst – sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen. Eine Initiative sucht Menschen, die Zeit schenken – müsste ich eigentlich, finde ich, aber wenn ich ehrlich bin, ist es mir zu viel. Nein sagen ist schwer.
    Freiheit zum Neuanfang
    Auch in diesem Zusammenhang geht es um die Freiheit, mit Belastung, Versagen und auch eigener Schuld umzugehen. Wir sagen als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes: Wer Schuld vor Gericht verantwortet hat, Strafe abgebüßt, Versöhnung mit den Opfern der eigenen Tat gesucht hat, der oder die hat einen Neuanfang verdient. Aber ist das der Fall? Vor einigen Jahren war ich zu einer Talkshow eingeladen, bei der reißerisch angekündigt wurde, ein Mörder würde am Tisch sitzen. Es handelte sich um einen vierfachen Familienvater, der als Jugendlicher seine Freundin erschlagen hatte. Zunächst hatte ich ein beklemmendes Gefühl, aber mich hat überzeugt, wie jemand hier vor Gott, vor den Eltern des Opfers, vor seinen Liebsten und vor der Öffentlichkeit zu seiner Tat stand. Er hat sich nicht versteckt, nicht vorschnell auf biblische Gebote der Vergebung berufen. Aber er strahlte eine innere Freiheit aus. Weil er sich selbst im Spiegel ansehen konnte, zu seiner Tat stand, sie bitter bereute, seine Schuld ausgesprochen und einen neuen Anfang gesucht hatte.
    Das ist viele Jahre her, aber es hat mich sehr nachdenklich gemacht. Mir liegt daran, dass die Opfer im Vordergrund stehen. Das ist in Missbrauchsfällen so, wie sie auch im kirchlichen Kontext schrecklicherweise aufgedeckt werden, bei Vergewaltigung, die im Krieg, aber auch im häuslichen Alltag stattfindet oder auch mit Blick auf die entsetzlichen Erfahrungen, die Kinder auch in kirchlichen Heimen in Deutschland in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren erleiden mussten. Die Opfer sind zu schützen, sie brauchen Raum, ihre Geschichten zu erzählen und ihre Wunden heilen zu lassen – auch ohne öffentlich reißerische Berichterstattung. Es braucht geschützte Räume, Vergangenes auszusprechen, anzuklagen und so Zukunftsperspektiven zu finden. Die Opfer stehen an allererster Stelle.
    Und gleichzeitig sollten wir uns als Bürger und Christen fragen: Sind wir wirklich bereit, auch mit Tätern, die ihre Schuld bekennen, einen Neuanfang zu wagen? Erzbischof Desmond Tutu hat das für mich nachdrücklich klargemacht: Versöhnung ist möglich, wenn Opfer Raum bekommen, ihre Geschichte zu erzählen, und Täter die Freiheit finden, Schuld zu bekennen. Freiheit ist hier keine Frage von Gefängnis oder nicht, sondern eine Frage der inneren Haltung. „Ob ich mit mir im Reinen bin“, mich wieder anschauen kann im Spiegel – das war eine Frage, die ich bei Opfern und bei Tätern gehört habe, die für sie entscheidend war mit Blick auf die Frage, ob sie die Kraft haben, ihre Zukunft zu gestalten. Das ist auch eine Herausforderung für die Gesellschaft, in der sie beide leben.
    In ihrem Buch „Haltung zeigen“ entwirft die Kulturbeauftragte der EKD, die Theologin Petra Bahr, einen „Knigge nicht nur für Christen“ 22 . Sie zeigt auf eindrückliche Weise auf, wie „Entmoralisierung und Remoralisierung sich in einem Spannungszustand eingependelt“ 23 haben, weil auf der einen Seite moralische Verurteilung aufgrund von überlieferten Vorstellungen in Misskredit geraten ist und auf der anderen, weil es „eine Art der öffentlichen Empörung (gibt), die sich so sehr selbst gefällt in ihrer Betroffenheit über die vermeintliche Verrohung oder Entgleisung, dass sie nur noch als Reflex in einem Spiel von Tabubruch und Erregung wahrgenommen wird“ 24 . Mir leuchtet sehr ein, dass wir in dieser Spannung neu fragen müssen, was denn „Haltung“ überhaupt ist. Und

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