Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern
„Barmherzigkeit“ bleibt untrennbar mit ihm verbunden. Was aber ist Barmherzigkeit in unserer Zeit? Handelt es sich dabei um eine alte muffige Tugend, die durch „zivilgesellschaftliches Engagement“, „praxisrelevante Zuwendung“ oder „intensive care“ ersetzt werden kann?
Das Gleichnis bleibt, so denke ich, auch nach 2000 Jahren in seiner Klarheit überzeugend. Ein Schriftgelehrter fragt Jesus:
Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
(Lk 10,29b–37).
Was das Gleichnis immer wieder so aktuell macht, ist das Wegschauen von Priester und Levit. Gewiss, sie mögen gute Gründe gehabt haben – vielleicht religiöse, weil sie sich nicht unrein machen wollten. Vielleicht standen sie unter Zeitdruck, vielleicht waren sie aber auch nur genervt von der möglichen Belästigung, die das alles nach sich ziehen könnte. O, ja, ich schaue auch manchmal weg, wenn der dritte Zeitungsverkäufer in die Berliner U-Bahn kommt, seine Lebensgeschichte erzählt und um Geld bittet. Oder ich drücke mich vor dem Besuch, obwohl ich weiß, ich sollte die schwer demenzkranke Bekannte längst besucht haben, weil mir die Zeit davonläuft. Es gibt viele gute Entschuldigungen, damals wie heute. Das Gleichnis ermahnt jedoch zum Hinschauen und zum Handeln. Der absolut nicht zuständige Mann aus Samarien investiert Zuwendung, Zeit und Geld, um einen ihm völlig Fremden zu versorgen, schlicht weil dieser Mensch Hilfe braucht. Um den nahen Nächsten kümmern wir uns gern und schnell, beim fernen Nächsten fällt uns das schwer.
Was aber ist Barmherzigkeit? Was meint dieser Begriff, der so abgedroschen zu klingen scheint? In Johann August Eberhards „Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache“ von 1910 heißt es: „ Barmherzigkeit zeigt die Bereitwilligkeit, Leidenden zu helfen, in ihrer Quelle, in dem zu einem dauernden Zustande, zu einer festhaftenden Eigenschaft gewordenen Mitgefühl, Erbarmen die Wirkung dieses Gefühls in einzelnen Fällen an. Die Barmherzigkeit bewegt uns, mit einem Unglücklichen Erbarmen zu haben, und der Barmherzige kann keinen Leidenden sehen, ohne Erbarmen mit ihm zu haben. Barmherzigkeit verhält sich also zu Erbarmen , wie die Tugend zur Übung derselben.“
Barmherzigkeit ist demnach eine Eigenschaft, eine ethische Grundhaltung. Und die spielt für Christinnen und Christen eine entscheidende Rolle. Jesus hat in seinen Gleichnissen immer wieder vom Reich Gottes gesprochen. Diese Gleichnisse sind sein Markenzeichen , würden wir heute sagen. Er hat seine Jüngerinnen und Jünger gelehrt zu beten: Dein Reich komme! Die Gleichnisse sollen deutlich machen: Auch wenn noch verborgen ist, wie Gott unter uns wirkt, das Reich Gottes ist doch schon mitten unter uns erfahrbar. Das Reich der Himmel berührt unser Leben. Jesus verkündigt, dass schon hier und jetzt erfahrbar wird, wie einst in Gottes Zukunft alle Tränen abgewischt sein werden. Der Theologe Fulbert Steffensky hat das folgendermaßen weitergedacht: „Der Himmel, der kommt, wird zum Bauplan der Welt, die ist. Er ist nichts völlig anderes, er ist die Musik, die hier schon angestimmt werden soll. Gottes Wille soll geschehen im Himmel wie auf Erden, wie die Bitte des Vaterunsers sagt. Himmel heißt, eine Arbeit auf der Erde zu haben. Die große Würde des Menschen: Er ist nicht nur nacktes Spatzenjunges, das den religiösen Schnabel aufsperrt und auf die tägliche Gnadenfütterung Gottes wartet. Der Mensch ist Mitarbeiter und Koautor des Himmels. Der Mensch ist
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