Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern
nennen, also verbunden und ihnen im Prinzip gleich. Nur durch die Sprache und unseren Umgang mit ihnen machen wir sie zu „anderen“. Damit möchte ich sagen: Das Anderssein von Menschen mit Behinderungen ist ein gesellschaftliches Konstrukt, und das heißt, dass es veränderbar und grundsätzlich gestaltbar ist! Kinder beispielsweise, die nicht so schnell und sicher rechnen können wie der Durchschnitt eines Jahrgangs, bekommen schnell die Diagnose „Dyskalkulie“, die Leseschwachen „Legasthenie“ und die Bewegungsfreudigen „ADHSler“ – Eltern, Kinder und Lehrer nehmen das Prädikat als gegeben hin, die Kinder haben einen Stempel, fühlen sich defizitär. Wer entscheidet, wann jemand den Stempel bekommt: „behindert“? Wann wird jemand auf ein Defizit festgelegt?
Das berühmte Gleichnis, das Jesus erzählt, verliert übrigens sofort die ihm so manches Mal zugeschriebene Betulichkeit, wenn ein Mensch selbst auf solche Zuwendung angewiesen ist. Die Einweisung in ein Krankenhaus. Der Abend vor der OP. Die Frage nach dem Befund. Der Morgen, an dem du wartest: Wann holen sie dich? Und das Aufwachen, die Frage: „Was bedeutet das alles für mein Leben?“ Wenn wir verletzt werden oder krank sind, dann sind wir existenziell auf andere angewiesen. Und dann ist Barmherzigkeit eine höchst aktuelle Tugend, von der wir hoffen, dass wir uns auf sie verlassen können! Erbarmen im christlichen Sinn ist eben keine Haltung der Herablassung. Solcher Samariterdienst ist alles andere als betulich, altertümlich, sondern immer wieder aktuell. Jeder Patient, jede zu Pflegende fühlt sich ausgeliefert, ja, oft gedemütigt durch die Pflegesituation. Wenn dir dann jemand ein gutes Wort sagt, dich – im Gleichnis gesprochen – auf sein Lasttier hebt, dann kann das für dich ein Lichtblick sein, eine Erfahrung von Gottes Zuwendung, durch Menschen vermittelt.
Kultur des Vertrauens
In unserer Gesellschaft, in deren Medien zumeist ein Kult von Stärke und Schönheit zelebriert wird, wird das Thema „Schwäche“ und „Beschämung der Schwachen“ verdrängt. Sprechen wir von eigenen Schwächen, Grenzen, Unvollkommenheiten, machen wir uns angreifbar und verletzlich. Das Wettbewerbsdenken der Wirtschaft befeuert geradezu die Kultur des Herausstellens der Stärken und des Kaschierens von Schwächen, Mängeln und Schwierigkeiten. Bei Bewerbungen oder im Wahlkampf musst du mit Stärken klotzen, auch wenn du sie gar nicht hast. „So wie Fehler von Politikern inzwischen skandalisiert werden, kann am Ende jeder fertiggemacht werden“, stellt Giovanni di Lorenzo fest. 28
Eine Atmosphäre des schönen Scheins ist in immer mehr Bereiche unseres Lebens vorgedrungen und hat sich dort breitgemacht. Die Bibel und ihre Sicht auf die Welt und die Wirklichkeit von uns Menschen stehen dem entgegen. Ich bin überzeugt, dass es möglich ist, den öffentlichen Diskurs darüber zu führen und zu verstärken; und zwar nicht bloß als einen Streit über Glaubensinhalte, sondern als einen Streit über die Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung!
Die Bibel lese ich als ein Mutmachbuch. Es geht in ihr darum, nicht nur für Menschen einzutreten, die verletzt sind oder auch in Schuld verstrickt, sondern auch Mut zu bekommen, die eigene Angreifbarkeit und Verletzlichkeit zu riskieren, indem wir die eigenen Schwächen und Grenzen wahrnehmen und ansprechen. Sie ist ein Mutmachbuch für eine Kultur des Vertrauens, in der andere und ich selbst anerkannt und akzeptiert sind, mit allen Stärken und Schwächen, Größen und Grenzen. Anders als viele meinen, kann das Eingestehen von Schwäche ganz neue Wege öffnen, Solidarität und Vertrauen wachsen lassen. Das gilt es einzuüben, auch in kirchlichen und diakonischen Arbeitszusammenhängen. So geben uns die Bibel und das Gebot, die Schwachen nicht zu bedrücken, nicht nur Anlass, uns der Menschen mit Unterstützungsbedarf anzunehmen, sondern auch in der Gesellschaft um die Bewahrung und Rückgewinnung von Räumen zu ringen, in denen Vertrauen sich entfalten kann, in denen offen und ehrlich über Schwächen und Schwierigkeiten gesprochen werden kann und in denen der Zwang aufgehoben ist, sich auf Stärke und das Vortäuschen von Stärke verlegen zu müssen. Ein Segenskreislauf der Barmherzigkeit schließt sich: Ich erlebe in der Wahrnehmung von Schwächen meine eigene Bedürftigkeit. Denn deutlich ist: Es gibt die Schwachen im Land, aber Schwächen haben alle Menschen.
Menschen, die dem Leitbild von Gottes-,
Weitere Kostenlose Bücher