Mehr als Ja und Amen - Doch wir koennen die Welt verbessern
ihres Lebens lange leiden zu müssen und nicht selbstbestimmt sterben zu dürfen. Das ist ein großes ethisches Dilemma. Ich verstehe den Wunsch gut, denn ich kann mir vorstellen, in einer Situation zu sein, in der ich nicht länger kämpfen, sondern in Frieden sterben will.
Aber ich sehe auch eine Gefahr: Wird Tötung auf Verlangen erlaubt, verändert sich eine Gesellschaft. Wird nicht manchem alten Menschen unter Umständen nahegelegt, es sei jetzt an der Zeit? Oder hat vielleicht jemand das Gefühl, er falle so sehr zur Last, dass nun eine Entscheidung anstehe? Wird ein Leben, das Schmerz und Leid kennt, als unwertes Leben angesehen? Das ist ein enormes ethisches Dilemma, denn eine solche Haltung kann Tür und Tor zu der Sichtweise öffnen, dass all diejenigen, die nicht mithalten können, nicht leistungsfähig sind, mit körperlichen und psychischen Erkrankungen oder Behinderungen zu kämpfen haben, eigentlich nur eine Belastung darstellen. Das ist ein erschreckendes Menschenbild. Deutschland hat in der Zeit des Nationalsozialismus erlebt, wohin das führt: in Aussonderung, Absonderung, Ermordung.
Tante Marianne
Daran hat mich das Bild „Tante Marianne“ erinnert, das in der Gerhard-Richter-Ausstellung 2012 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen war. Am Anfang hat mich das Bild schlicht fasziniert – eine so zarte Pose eines jungen Mädchens und eines Kleinkindes, verschwommen wirkend wie viele Richter-Bilder. Aber dann habe ich gelesen, dass Richter seine Tante Marianne, die jüngste Schwester seiner Mutter, gemalt hatte, ohne zu wissen, dass sie für das Grauen der Euthanasieprogramme der Nazizeit steht. 86 Bei ihr, dieser hübschen, aufgeschlossenen, offensichtlich intelligenten jungen Frau wurde mit 20 Schizophrenie diagnostiziert. Es folgt eine Einweisung, ein furchtbarer Leidensweg durch verschiedene Einrichtungen, Zwangssterilisation, am Ende Vergasung …
Marianne Schönfelder, die in Dresden die Höhere Mädchenschule besuchte, war – wie so manche jüngste Tochter – ganz offensichtlich der Augapfel ihrer Eltern. Sie wurde dann aber Opfer einer Ideologie, die eine Lehre von „Deutschem Blut und Kulturerbe“ predigte. 87 „Unwertes Leben“, „unnütze Esser“, „Kostgänger“ im Herrenvolk. Mariannes Bild steht für eine Zerstörung, die kaum in Worte zu fassen ist. Gerhard Richter hat erst spät begriffen, dass sein Schwiegervater, SS-Obersturmbannführer Heinrich Eufinger, den er mehrfach gemalt hat, Zwangssterilisierungen verantwortet und zu Hunderten selbst durchgeführt hat. Mit 73 Jahren begriff er, was er da mit 33 gemalt hatte. 88 Eine Lebensgeschichte, die anmahnt, Respekt vor Menschen zu bewahren, die nach landläufigen Kriterien nicht gesund und leistungsfähig sind, ja, sie als Teil unserer Gemeinschaft zu sehen, weil diese Gemeinschaft sonst diese Bezeichnung nicht mehr verdient.
Manchmal habe ich den Eindruck, wir halten nicht aus, dass wir nicht alles kontrollieren können. Wer an Gott glaubt, kann das Leben eher aus Gottes Hand nehmen und am Ende der Tage auch wieder in Gottes Hand geben. Heute aber will der Mensch autonom sein, auch festlegen, wann der Zeitpunkt des Sterbens ist. Eigene Schmerzen, der Anblick der Schmerzen anderer, die Ungewissheit darüber, wie lange ein Sterbeprozess dauern mag, sind dem durchorganisierten Menschen des 21. Jahrhunderts unerträglich, wenn wir diese Dinge nicht „in den Griff“ kriegen.
Doch da sind natürlich auch tiefe Dilemmata. Die Mutter einer Freundin von mir lag im Dämmerzustand in einem Pflegeheim. Sie nahm kaum noch Nahrung zu sich. Das ist ein langes, quälendes Sterben für diejenigen, die es miterleben. Angesichts einer solchen Situation stellt sich die Frage: Halten wir das aus? Wer aber wollte jetzt zur „Todesspritze“ greifen? Das wäre Mord. Soll vielleicht sogar eine Magensonde gelegt werden, weil die Frau sonst verhungern würde? Oder wäre das eine unbarmherzige Lebensverlängerung? Das Ende des Lebens bringt ethische Herausforderungen mit sich, die sich nicht so einfach entscheiden lassen. Es wird darum gehen, gesetzliche Schutzbedingungen und individuelle Freiheit in eine Balance zu bringen. Selbstbestimmungsrechte und der Blick auf das Gemeinwohl sind in Einklang zu bringen.
Herausgefordert durch den Tod
Auch Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte sind ja oft überfordert. Lernt ein angehender Arzt, wie er die Nachricht von einer tödlichen Erkrankung überbringt? Nach meiner Erfahrung offenbar
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