Mehr als nur ein halbes Leben
jeden Abend angefleht, mich im Schlaf sterben zu lassen.«
»Es war ein Unfall. Es war nicht deine Schuld«, sage ich.
»Manchmal denke ich, dein Unfall war auch meine Schuld«, gesteht sie.
Ich starre sie an. Ich verstehe nicht, was in aller Welt sie damit meinen könnte.
»Ich habe Gott um einen Grund angefleht, in deinem Leben zu sein, um eine Möglichkeit, dich wieder kennenzulernen.«
»Mom, bitte. Gott hat mir keinen Schlag auf den Kopf gegeben und mir die linke Seite von allem genommen, damit du wieder in meinem Leben sein konntest.«
»Aber ich bin in deinem Leben, weil du einen Schlag auf den Kopf bekommen und die linke Seite von allem verloren hast.«
Gott hat einen Plan.
»Weißt du, du hättest mich einfach anrufen können.«
Und nicht Gott und eine schwächende Gehirnverletzung mit hineinziehen sollen.
»Das wollte ich ja. Ich habe es versucht, aber jedes Mal, wenn ich zum Telefon gegriffen habe, war ich auf einmal wie erstarrt, bevor ich zu Ende wählen konnte. Mir fiel nichts ein, was ich sagen könnte, nichts, was genug sein würde. Ich hatte Angst, du würdest mich hassen, und es könnte zu spät sein.«
»Ich hasse dich nicht.«
Die Worte kommen mir über die Lippen, ohne dass ich bewusst darüber nachdenke, als würde ich eine Standardantwort abspulen, so wie man gut sagt, wenn jemand Wie geht’s? fragt. Aber in den folgenden stillen Momenten begreife ich, dass diese Worte die Wahrheit und nicht nur ein höfliches Lippenbekenntnis sind. In dem komplexen Geflecht meiner nicht so bewundernswerten Gefühle gegenüber meiner Mutter ist nicht ein einziger Strang aus Hass gewebt. Während ich meine Mutter mustere, bemerke ich eine spürbare Veränderung in ihrer Energie, als würde sich der Pegel ihrer nervösen Schwingung senken. Nicht auf null, aber doch deutlich.
»Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe, Sarah. Ich lebe mit so viel Reue. Dass ich nicht besser auf Nate aufgepasst habe, dass ich nicht bei ihm war, bevor es zu spät war, dass ich all die Jahre mit dir verloren habe, dass ich mir nicht schon früher Antidepressiva besorgt habe. Ich wünschte, diese Pharmaunternehmen könnten auch eine Anti-Reue-Pille herstellen.«
Ich nehme diesen aufrichtigen Wunsch zur Kenntnis, während ich das Gesicht meiner Mutter betrachte – die Sorgenfalten, die eigentlich eher Sorgenfurchen sind, tief zwischen ihren Augenbrauen und auf ihrer Stirn, den Schmerz in ihren Augen, die Reue, die in jeden ihrer Züge eingraviert ist. Irgendein zukünftiges behördlich zugelassenes, rezeptpflichtiges Medikament wird sie nicht von ihrem Schmerz befreien. Meine Mutter braucht nicht noch eine Pille in ihrem Pillendöschen. Sie braucht Vergebung. Sie braucht meine Vergebung. Und auch wenn Ich hasse dich nicht und Es war nicht deine Schuld bereitwillige, aufrichtige Angebote waren, weiß ich doch, dass sie bestenfalls schmerzlindernd sein können. Sie ist nicht hässlich ist nicht dasselbe wie Sie ist schön und Er ist nicht dumm nicht dasselbe wie Er ist schlau. Das Heilmittel meiner Mutter gegen ein Leben voller Reue liegt in den Worten Ich vergebe dir , ausgesprochen von niemand anderem als mir. Das weiß ich intuitiv, aber irgendein Teil von mir – einer, der alt und verletzt ist und selbst ein solches Wundermittel bräuchte – verweigert diese Großzügigkeit und will nicht zulassen, dass diese Worte meinen Kopf verlassen. Und selbst dann müssten sie, bevor sie ausgesprochen werden könnten, den langen Weg von meinem Kopf zu meinem Herzen zurücklegen, um sich die Aufrichtigkeit zu verdienen, die sie bräuchten, um zu wirken.
»Ich empfinde auch Reue«, sage ich stattdessen, auch wenn ich weiß, dass die Schuldgefühle einer jungen Schwester winzig sein müssen im Vergleich zu denen einer Mutter, ein Staubkorn auf meinen Schultern im Vergleich zu einem ganzen Planeten auf ihren. »Ich vermisse ihn noch immer.«
»Ich auch. Jeden Tag. Und ich bin immer noch traurig. Aber die Traurigkeit verschluckt mich nicht mehr völlig, wie sie es früher getan hat. Und jetzt gibt es auch Freude. Ich sehe ein wenig von Nate, als er klein war, in Linus, und ich sehe viel von ihm in dir und Charlie. Es heilt meine Seele zu sehen, dass Teile von ihm noch immer lebendig sind.«
Ich sehe zu, wie Linus ein Dutzend aneinandergehängte Züge um den Couchtisch schiebt. Ich war erst drei, als Nate so alt war, wie Linus es jetzt ist, und ich kann mich weder an sein Äußeres noch an seine Persönlichkeit gut
Weitere Kostenlose Bücher